Uhren aus Deutschland: Wie Mühle-Glashütte Tradition und Innovation vereint
Nachdem wir in Dresden gelandet sind, holt uns der 33-jährige Dustin Mühle persönlich mit seinem vollelektrischen Volkswagen vom Flughafen ab. Im ersten Gespräch wird klar, zwei Themen scheinen ihn besonders zu bewegen: Sport und Nachhaltigkeit. Er leitet die Fertigung und die Manufaktur von Mühle-Glashütte und ist gleichzeitig der Sohn von Firmenchef Thilo Mühle, 56. Dessen Vater Hans-Jürgen wiederum hat das Unternehmen vor genau 30 Jahren infolge der deutschen Wiedervereinigung neu gegründet.
Zusammen mit seiner 30-jährigen Schwester Fanny, die für den Vertrieb und die Kundenbetreuung verantwortlich ist, vertritt Dustin die mittlerweile sechste Generation der Mühles. Genau genommen ist die Familie nämlich seit 155 Jahren in der Glashütter Uhrenindustrie tätig. Als wir schließlich am Tor zum Firmengelände ankommen, erwarten uns dort auch Vater und Schwester. Nach einer Führung durch die Fertigungshallen setzen wir uns auf die Dachterrasse – Zeit für ein Familiengespräch.
Ihre Familie ist seit 155 Jahren in der Uhrenindustrie tätig, wofür steht der Name Mühle-Glashütte heute?
Thilo M.: Genau genommen wurde das Unternehmen Mühle-Glashütte in der heutigen Form erst vor 30 Jahren von meinem Vater gegründet. Aber es stimmt, unsere Familie entwickelt seit 1869 in Glashütte Messinstrumente, Tachometer und heute eben auch Armbanduhren. Ich würde salopp sagen: Wir stellen Gebrauchsuhren her. Damit meine ich Uhren für den täglichen Bedarf. Robuste, zuverlässige Uhren mit einem ansprechenden, klaren Design. Neben Wasserdichtigkeit oder Ablesbarkeit legen wir besonders viel Wert auf die Präzision. Meinem Vater war es extrem wichtig, dass man niemals zu spät kommt. Deswegen regulieren wir unsere Uhren auch nicht wie andere Hersteller von minus vier bis plus sechs, sondern von null bis plus acht. Damit man höchstens ein bisschen zu früh, aber auf gar keinen Fall zu spät kommen kann.
Als Ihr Vater nach der Wende das Unternehmen neu gegründet hat, war da für Sie klar, dass Sie auch einmal dort arbeiten wollen?
Thilo M.: Mein Vater hatte zu DDR-Zeiten bei Glashütte Uhrenbetriebe eine leitende Position und ist dann im Alter von 53 freigestellt worden. Er war also noch deutlich zu jung für die Rente, also fing er an, nautische Instrumente und später Armbanduhren zu bauen. Ich dagegen war im Vertrieb und hatte einen technischen Beruf als Werkzeugmacher gelernt. Als die Firma dann irgendwann boomte, fragte mein Vater mich und meine Geschwister, ob wir Lust hätten, mit einzusteigen.
Meine beiden Geschwister haben das abgelehnt, aber ich habe gegen den Rat meiner Frau gesagt: Ja klar, warum nicht.
Fanny und Dustin, wie war das bei Ihnen? Wollten Sie schon immer ins Familienunternehmen einsteigen?
Dustin M.: Bei uns gab es in der Tat auch erst mal andere Pläne.
Fanny M.: Und dann haben wir uns doch beide dafür entschieden, dass wir das fortführen wollen, was die fünf Generationen vor uns aufgebaut haben. Und zwar aus freien Stücken. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist, dass unsere Eltern uns immer die Wahl gelassen haben.
Was wäre der Plan B gewesen?
Fanny M.: Ich habe erst einmal Physiotherapie gelernt und später Sozialpädagogik studiert. Trotzdem hat es mich dann zurück ins Familienunternehmen gezogen, weil es einfach schon immer ein fester Bestandteil in meinem Leben war. Schon im Alter von sieben Jahren habe ich meinen Vater im Außendienst begleitet. Einige der Kollegen, die schon etwas länger hier arbeiten, kennen mich noch als kleines Mädchen.
Dustin M.: Ich habe erst einmal eine Ausbildung zum Fluggerätmechaniker gemacht und bei der Firma Elbe Flugzeugwerke geholfen, Passagiermaschinen in Frachtflugzeuge umzurüsten. Später habe ich dann noch ein Studium zum Wirtschaftsingenieur in Dresden draufgelegt. Einer der Kurse, die ich dort belegte, hieß Führung und Management mittelständischer Unternehmen. Meine Praxisarbeiten habe ich dann schon hier im Unternehmen gemacht, und so bin ich Schritt um Schritt tiefer ins Unternehmen eingestiegen.
Seit Kurzem sind Ihre Kinder Teil der Geschäftsleitung. Müssen wir demnächst mit einer Staffelübergabe an die nächste Generation rechnen?
Thilo M.: In der Uhrenbranche ist es durchaus schon öfter vorgekommen, dass der Firmeninhaber am Schreibtisch gestorben ist. Ich will und werde kein Patriarch sein, der seine Kinder über 20 Jahre alle Positionen im Unternehmen durchgehen lässt und dann erst am Ende kurz vor dem Grab die Verantwortung abgibt.
Das ist definitiv nicht mein Plan.
Was ist dann Ihr Plan?
Thilo M.: Ein paar Jahre werde ich das noch mit Vollgas machen, aber spätestens mit 60 will ich nicht mehr jeden Tag ins Büro kommen. Das heißt nicht, dass ich mich vollkommen zurückziehe. Wenn ich gebraucht werde, stehe ich meiner Familie zur Verfügung. Aber ich bin nicht die Zukunft des Unternehmens, das sind meine Kinder. Ich kenne mich sowieso nicht so gut aus mit den technischen Trends wie die Generation der Digital Natives.
Kann man Vorschläge besser von einem Mitarbeiter oder einem Mitglied der Familie annehmen?
Thilo M.: Weder noch, ich bin ein sehr praxisorientierter Mensch, mir kommt es bei einer neuen Idee vor allem darauf an, dass sie das Unternehmen weiterbringt.
Da ist es eher zweitrangig, ob der Vorschlag von einem Mitarbeiter oder einem meiner Kinder kommt.
Wie offen ist Ihr Vater denn für Ihre Ideen?
Dustin M.: Eigentlich sehr offen.
Fanny M.: Unsere Vorstellungen laufen auch nicht völlig konträr auseinander.
Eigentlich?
Fanny M.: Es gibt natürlich auch Themen, bei denen es einen gewissen Generationenkonflikt gibt. Aber grundsätzlich sind wir ähnlich gepolt.
Was wäre denn ein solcher Generationenkonflikt?
Thilo M.: Zum Beispiel das Thema Home-Office.
Fanny M.: Stimmt, mein Bruder und ich stehen modernen Formen des Arbeitens offener gegenüber.
Dustin M.: Zur Verteidigung meines Vaters: Mühle war früher ein reiner Produktionsbetrieb, da war das weder nötig noch sinnvoll. Aber das hat sich heute in vielen Bereichen verändert, und ein flexibleres Arbeitsmodell erleichtert es uns auch, geeignetes Personal zu finden.
Wie sieht es bei der Produktpolitik aus?
Fanny M.: Die Produkte werden von einem Team entworfen, obwohl hier natürlich unser Vater federführend dahintersteht. Aber auch hier werden wir immer mehr mit einbezogen. Das ist mehr so eine Art Austausch, unsere Vorstellungen unterscheiden sich nicht großartig voneinander. Wir haben als Familienunternehmen eine lange Tradition und eine klare Vorstellung, wie das Gesicht unserer Uhren und die Werte, die wir vermitteln, aussehen sollen.
Welche Uhr von Mühle-Glashütte sollte man auf jeden Fall kennen?
Thilo M.: Das ist klar der „S.A.R. Rescue-Timer“, also unsere Seenotretter-Uhr. Die gibt es seit über 20 Jahren. Eine Uhr, die besonders robust ist, die man leicht und schnell ablesen kann und die keine harten Ecken oder Kanten hat, um das Verletzungsrisiko zu minimieren. Dieses Design ist außergewöhnlich, so etwas findet man hier in Glashütte nirgendwo sonst.
Ein bisschen erinnert der „Rescue-Timer“ an die Einsatzuhren von Sinn Spezialuhren.
Thilo M.: Ja, aber letztendlich grenzt sich die Uhr klar durch ihren Einsatzbereich ab. Ich denke auch nicht, dass Sinn plötzlich anfangen wird, Uhren für Seenotretter zu bauen, genauso wie ich bestimmt keine Uhren für die Feuerwehrleute konstruieren werde. Aber über die Seenotrettung sind wir natürlich auch ein Stück weit in den militärischen Bereich gekommen. Als wir den „S.A.R. Chronographen“ für die Rettungsflieger der Deutschen Marine aufgelegt haben.
Oder die „Seebataillon GMT“-Uhr für die Soldaten, die z. B. im Atlantik Schiffe vor Piraten beschützen.
Ihre neueste Modellreihe nennt sich „Sportivo“, wird Mühle jetzt sportlicher?
Thilo M.: Die Uhr basiert eigentlich auf einem Einzelstück, das ich von meinen Mitarbeitern zu meinem 50. Geburtstag be-kommen habe. Wir waren damals auf der Suche nach einer neuen sportlichen Linie, und bei dieser Uhr hat alles so gut gepasst, und so viele Menschen haben mich auf die Uhr angesprochen, dass wir sie als Basis für die neue Modellreihe genommen haben.
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Das Thema Sport ist Ihrer Familie ohnehin sehr wichtig, oder?
Thilo M.: Das stimmt. Wir waren schon sehr früh mit den Kindern in den Bergen zum Wandern, später kam ich zum Radfahren, mit meinem Sohn bin ich beim norwegischen Trondheim–Oslo-Rennen mitgefahren, das waren 541 Kilometer am Stück.
Dustin M.: Wir sind um zehn in der Früh gestartet und waren dann 19 Stunden unterwegs. Der Sport hat einen hohen Stellenwert bei uns in der Familie. Selbst in die Arbeit fahre ich normalerweise immer mit dem Fahrrad. Das sind jeden Tag circa 60 Kilometer von Dresden nach Glashütte und zurück.
Thilo M.: Wir laufen auch gerne. In der Schweiz bei Interlaken sind wir den Jungfrau-Marathon gelaufen. Das ist eine Marathon-Distanz mit über 1800 Höhenmetern. Ich inzwischen dreimal, aber mein Sohn hat mich mittlerweile deutlich überholt, er ist gut eine Dreiviertelstunde schneller als ich, letztes Jahr war er auf Platz 45 – von über 4000 Menschen, die da mitrennen. Da war ich sehr stolz auf ihn.
Sind die Käufer von Mühle-Uhren denn genauso sportlich?
Thilo M.: Wir haben in der Tat sehr sportliche Kunden, viele sind aber einfach technisch versiert und irgendwie heimatverbunden. Die mögen es, dass da made in Germany draufsteht. Die sagen sich, warum eine Uhr aus der Schweiz kaufen, wenn wir in Deutschland auch schöne Alternativen haben.
Fanny M.: Viele Kunden mögen auch, dass wir noch ein Familien-unternehmen sind. Das macht uns ehrlich und authentisch.
Aber die Uhrwerke kommen trotzdem aus der Schweiz, richtig?
Thilo M.: Das ist richtig. Als Basis benutzen wir Werke von Selitta, das kommunizieren wir ganz offen. Aber von allen Unternehmen hier in Glashütte, die mit einem Schweizer Werk arbeiten, sind wir am tiefsten in der Wertschöpfungskette. Damit will ich sagen, wir verändern sehr viel, wir bauen die Werke komplett auseinander und ergänzen sie mit unseren eigenen Teilen und unserer eigenen Regulierung.
Sehen Sie Ihre Konkurrenz eher in Glashütte oder in der Schweiz?
Thilo M.: Gerade Marken wie Lange oder Moritz Grossmann haben einen ganz anderen Anspruch, insofern kann man das gar nicht vergleichen. Oder nehmen Sie Nomos, die gehen designtechnisch in eine völlig andere Richtung als wir. Deswegen sehe ich andere Marken aus Glashütte nicht wirklich als Konkurrenz. Im Gegenteil, wir befruchten uns gegenseitig, denn je mehr Leute von diesem Ort eine positive Meinung haben, umso besser ist es letztendlich für uns alle. Da konkurriere ich schon eher mit einer Schweizer Marke wie Oris, auch wenn sie natürlich in einer anderen Liga spielt, was die Größe und Finanzkraft angeht. Aber zumindest von der Produktgestaltung und der Idee, was wir unter einer Uhr verstehen, ist sie uns ähnlich. Selbst IWC ist uns als deutsch-schweizerischer Marke sehr nahe, auch wenn die natürlich preislich ganz woanders liegen.
Wo sehen Sie die Schweizer Uhrenbranche im Vergleich zur deutschen Uhrenbranche?
Thilo M.: Die Schweiz wird immer die dominierende Macht in der Uhrenindustrie sein, daran werden wir auch in Glashütte nicht rütteln können.
Und außerhalb Glashüttes gibt es in Deutschland sowieso nur noch Sinn in Frankfurt und Junghans in Schramberg. Alle anderen Mitstreiter sind von der Größe nicht wirklich relevant.
“Das Design der Seenotretter ist außergewöhnlich, so etwas findet man hier in Glashütte nirgendwo sonst
Wie wichtig ist der Faktor Familienunternehmen für Mühle-Glashütte?
Fanny M.: Als Mitglied der Familie sind wir selbst so etwas wie die Markenbotschafter des Unternehmens. Wir sind absolut nahbar. Ich arbeite im Vertrieb und in der Kundenbetreuung, da habe ich viel Kontakt mit unseren Kunden.
Thilo M.: Gerade abends, wenn keiner mehr da ist, gehe ich auch mal selbst ans Telefon. Die Kunden sind dann immer erstaunt, dass der Chef persönlich dran ist. Diese Bodenständigkeit schätzen unsere Kunden sehr.
Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Kinder kein Interesse am Unternehmen gehabt hätten?
Thilo M.: Dann wäre mir vermutlich nichts anderes übrig geblieben, als das Unternehmen irgendwann zu veräußern. Ich habe schließlich die Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern, dass Mühle ein sicherer Arbeitgeber ist. Aber eigentlich mache ich mir da keine Sorgen, die siebte Generation steht bereits in den Startlöchern.
Wie meinen Sie das?
Dustin M.: Unser Vater spielt auf meinen siebenjährigen Sohn Valentin an, seinen Enkel. Wir haben ihm neulich die Frage gestellt, was er einmal werden will.
Und er hat geantwortet: Er möchte Chef bei Mühle werden.