Hört auf zu saufen!
Meine Freunde und ich gehörten zur Gruppe der normalen Trinker, die alles im Griff hatten. Das glaubte ich zumindest. Wir waren fröhliche Mitglieder der alkoholisierten Mittelschicht mit den gleichen Saufritualen wie Millionen anderer Männer auch: zweimal die Woche ins Restaurant oder in die Kneipe, ein bisschen absacken. Nach der Arbeit Druck ablassen mit ein, zwei Pils oder Hefeweizen, unterwegs gerne mal im ICE-Bordrestaurant oder an der Flughafenbar. Nach dem Kicken ein Kasten Augustiner mit den Kumpeln. Am Samstagabend ein gepflegter Absturz, warum auch nicht, schließlich war am Sonntag frei.
„Was war der Schlüsselmoment, der Auslöser, der dich zum Aufhören animiert hat?“, fragten mich später viele meiner Freunde und Bekannten, wenn ich mit einem Wasser bei ihnen am Tisch saß. „Den gab es nicht“, antwortete ich dann immer. „Ich habe mich einfach nicht mehr wohlgefühlt mit der ständigen Trinkerei.“
Es war tatsächlich nicht der eine böse Rausch, der mich meinen Alkoholkonsum hinterfragen ließ. Es war vielmehr die Anhäufung negativer Erlebnisse aus dreißig Jahren Trinkerei, das Gefühl, dass mich die Kater und die Schattenseiten meines Alkoholkonsums mittlerweile mehr belasteten, als die Euphorie des Rausches mich erfreute.
Mein Problem schien jedenfalls ein anderes zu sein als das der meisten der Autorinnen und Autoren, die über Alkohol geschrieben und Anleitungen zum Nichttrinken verfasst hatten und in deren Ratgebern und Erfahrungsberichten ich mich nicht wiederfand. Sie spielten am extremen Rand der Abhängigkeit, nicht in der Mitte. Bei ihnen ging es um Aufhören oder Sterben, Wein oder Wasser, alles oder nichts, und das für immer. Das war nicht das, was ich suchte.
“Ich will meine Leserinnen und Leser dazu ermutigen, sich zu hinterfragen
Und das ist auch nicht, was ich mit meinem Buch erreichen will. Ich will niemanden zur Abstinenz bekehren oder gar neumodernes Sober Living propagieren. Ich will nicht missionieren, sondern meine Leserinnen und Leser dazu ermutigen, meinen Alkoholismus als den ihren zu akzeptieren und mit mir auf diese Reise zu gehen. Sich so zu hinterfragen, wie ich es tue, eine Inventur zu machen, um am Ende selbstermächtigt zu entscheiden, ob und wie sie in Zukunft trinken wollen.
Mir hat dieser Prozess sehr gutgetan, mein Leben positiv verändert.
Ein Jahr ohne Alkohol: Sind wir Alkis?
Nach der offiziellen Definition der Weltgesundheitsorganisation liegt eine Alkoholabhängigkeit vor, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitgleich in einem Monat oder wiederholt während eines Jahres auftreten:
Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren
Verminderte Kontrollfähigkeit, was den Beginn, die Beendigung und die Menge des Konsums betrifft
Körperliches Entzugssyndrom, wenn Alkoholkonsum abgesetzt oder reduziert wird
Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen von Alkohol. Um die durch geringere Mengen Alkohol erreichte Wirkung zu erreichen, sind immer höhere Dosen nötig
Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten der Alkoholeinnahme
Fortdauernder Alkoholgebrauch trotz nachweislich eindeutiger Schäden, zum Beispiel Leberschädigung
Meine Freunde und Bekannten stellten mir die Frage, ob ich ein Alkoholiker sei, nicht nur weil sie sich um mich sorgten, sondern weil sie sie auch für sich selbst beantwortet haben wollten. Alki war ein großes, böses Wort, das man beim Brunch mit Avocado-Frischkäse-Bagel und Hafermilch-Cappuccino besser mied. Aber da sich unser Trinkverhalten vor meiner Auszeit geähnelt hatte, würde mein »Ja, ich bin ein Alki« bedeuten, dass sie sich mit der gleichen Diagnose abzufinden hätten. Ihnen würde die Legitimation entzogen, ihren eigenen Alkoholkonsum als unproblematisch betrachten zu dürfen.
Ein schwieriger Schritt, denn bislang schien doch klar: Man trank vielleicht zu oft einen über den Durst, und ja, man sollte häufiger mal vom Gas gehen, schon allein wegen der Kinder, aber eine Alkoholikerin, ein Alkoholiker? Nein, also, so schlimm ist es nun wirklich nicht, ich bitte dich.
Ein Jahr ohne Alkohol: Na prost!
Fast acht Millionen Deutsche zwischen achtzehn und vierundsechzig Jahren konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form, rund 1,6 Millionen Deutsche gelten als alkoholabhängig, und bei weiteren neun Millionen wird das Trinkverhalten als problematisch eingestuft.
Mehr als 74.000 Menschen, das ist einmal das ausverkaufte Berliner Olympiastadion, sterben in Deutschland jedes Jahr an den Folgen ihres Alkoholkonsums, 62.000 davon wegen einer allein durch Alkohol verursachten Erkrankung. Jede zehnte Straftat wird unter Alkoholeinfluss begangen. Bei jedem zweiten Fall von häuslicher Gewalt, meist zum Schaden von Frauen, ist Alkohol im Spiel.
Diese Statistiken variieren von Jahr zu Jahr ein wenig, doch ihre Botschaft bleibt immer gleich: Wir Deutschen trinken viel zu viel. Alkohol kann an der Entstehung von über zweihundert Krankheiten beteiligt sein. Dazu gehören verschiedene Krebsarten, Leberzirrhose, Herzmuskelschaden, Gastritis, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes sowie Schädigungen des Gehirns und des Nervensystems. Auch in unseren deutschsprachigen Nachbarländern sind die Zahlen deprimierend. In Österreich konsumiert jeder vierte Erwachsene in gesundheitsgefährdendem Ausmaß Alkohol. In der Schweiz hat jede dritte Bürgerin, jeder dritte Bürger mindestens eine Person mit Alkoholproblemen im Umfeld.
Wir wissen also, was wir tun, wenn wir prosten. Tödlich verlaufender Krebs und andere gravierende gesundheitliche Schäden aufgrund unseres Alkoholkonsums treten so wenig überraschend auf wie der Lungenkrebs beim Kettenraucher. Menschen, die sowohl rauchen als auch regelmäßig trinken, sind besonders gefährdet, an Rachen-, Kehlkopf- oder Speiseröhrenkrebs zu erkranken. Trotzdem saufen wir uns sehenden Auges um den Verstand. Rund fünfundsiebzig Prozent der Alkoholabhängigen in Deutschland sind männlich.
“Rund fünfundsiebzig Prozent der Alkoholabhängigen in Deutschland sind männlich
Ich war seit Beginn meines Selbstversuchs, mit einer Ausnahme im Rückfallsommer, nicht mehr krank gewesen. Das Privileg einer so langen gesunden Phase hatte ich bis dato nicht genießen dürfen. Keine Migräne, Grippe, Angina, kein Fieber, Herpes, Magen-Darm, kein Anstecken mit irgendeinem wilden Virus, das meine Tochter aus der Kita mitbrachte. Keine Schweißausbrüche, unangenehmen Körpergerüche, keine unreine, fettende Haut.
Chronische Entzündungen, die mich jahrelang tyrannisiert hatten, zum Beispiel an meiner linken Achillessehne und in meinem rechten Schultergelenk – verschwunden. Nachts mussten die verehrten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meiner Leber nicht mehr schuften wie im Bergwerk, um den Alkohol abzubauen. Ich schlief acht Stunden durch. Schlief ich einmal weniger, fühlte ich mich dennoch ausgeruht und bewältigte meinen Alltag produktiv.
Ein Jahr ohne Alkohol: Das Fazit
So langsam näherte sich das Ende meines Selbstversuchjahres, und meine Freunde belagerten mich regelrecht mit ihrer Neugier, sie wollten wissen, wie es danach weiterging. Egal, wen ich traf, die erste Frage lautete immer, ob ich bald wieder trinken würde. Warum diskutierten wir immer über den Samstagabend, den ausgelassenen Exzess, und nicht den Alltag, die anderen sechs Tage der Woche, die ohne Alkohol definitiv besser zu bewältigen waren? Alte Menschenregel – man vermisst das, was man gerade nicht haben darf, und übersieht das Wertvolle, was man dank des Verzichts hinzugewinnt.
“Egal, wen ich traf, die erste Frage lautete immer, ob ich bald wieder trinken würde
Ich beschloss, noch ein Jahr keinen Alkohol zu konsumieren. Meine Enthaltsamkeit wie den Vertrag eines Bundesligatrainers nach einer erfolgreichen Saison um eine Spielzeit zu verlängern. Ich fühlte mich wohl beim Gedanken an ein weiteres Jahr ohne Alkohol. Wenn meine Freunde fragten, ob ich nie wieder trinken wollte, antwortete ich, dass das momentan mein Wunsch sei, ich mich aber von der Endgültigkeit dieses Verlangens nicht unter Druck setzen lasse, weil Druck bei mir in der Vergangenheit häufig massiven Durst ausgelöst, das Gegenteil von dem bewirkt hatte, was ich erreichen wollte.