„Diese Werbeaktion […] ist ethisch und medizinisch äußerst fragwürdig, sexistisch noch dazu. Sie ist beschämend für Männer und herabwürdigend für Frauen“, kritisiert die Diversity Expertin Inge Bell auf der Plattform Linkedin. Es ist eine von vielen Stimmen, die Kritik am Video der Techniker Krankenkasse üben. Ja, sexistische Werbung ist problematisch. Doch treffen die Kritiker hier tatsächlich das richtige Ziel?
Auf der anderen Seite halten zahlreiche Kommentatoren in den sozialen Netzwerken das Video für wenig verwerflich. Einige äußern, die Aktion habe ihren Zweck erfüllt, schließlich spreche man überall über den kurzen Fake-Porno. Und das sei ja wohl die Hauptaufgabe von Werbung.
Doch von vorne: Was ist in dem Video zu sehen?
Doch von vorne: Was ist in dem Video zu sehen? Der Clip beginnt mit einer Frau unter der Dusche. Bei der jungen Frau handelt es sich um die Pornodarstellerin und Influencerin Anny Aurora. Während sie duscht, klingelt es, Anny Aurora geht im Handtuch an die Tür, wo der neue Nachbar sich vorstellt. Die beiden kommen ins Gespräch und knutschen schließlich auf der Couch. Bis hierhin könnte man tatsächlich meinen, es handelte sich nicht um die Produktion einer deutschen Krankenkasse, sondern um einen von Anny Auroras Erwachsenenfilmen mit Namen wie „Bums Bus 2“ oder „Sex Games“. Nicht gerade Oscar-verdächtig aber eben typisch Porno.
So geht es auch weiter, als Anny Aurora die Hose ihres neuen Nachbarn öffnet. Doch plötzlich wird das Bild schwarz und ein Schriftzug erscheint: „Die Techniker Krankenkasse präsentiert: Der Handjob gegen Hodenkrebs.“ In den verbleibenden zwei Minuten leistet die Erotik-Influencerin Aufklärungsarbeit und zeigt an einem Plastikmodell, wie man Hoden abtastet und etwaige Risiken erkennt.
Was einige als humorvolle Art werten, über ein ernstes Thema aufzuklären, sehen andere als bösen Sexismus
Was einige als humorvolle Art werten, über ein ernstes Thema aufzuklären, sehen wieder andere als bösen Sexismus. „Bitte das nächste Mal von einer anderen Agentur beraten lassen oder nochmal im Kollektiv über die Postings entscheiden. Ich denke, dass es nicht eure Absicht war. Aufklärung ist super wichtig & der Humor dabei auch. Aber nicht so“, urteilte etwa die Influencerin Louisa Dellert.
Playboy-Chefredakteur Florian Boitin verteidigte die Aktion in einem Kommentar auf Facebook und schrieb: „Hier greift eine Werbeagentur zu einem sehr wirksamen dramaturgischen Mittel: dem Stilmittel der Adaption. Es ist doch vollkommen offensichtlich, dass hier bewusst die Machart üblicher Pornofilmchen persifliert wird, um den Betrachter ganz bewusst (!) auf eine falsche Fährte zu führen. Und ich bin mir sogar sicher, dass sowohl Agentur als auch Kunde die sowas von erwartbare Reaktion unserer hyperventilierenden Erregungsgesellschaft fest einkalkuliert hat. Und diese tut beiden den Gefallen. Schöner Nebeneffekt: die Kampagne hat dadurch vielleicht sogar noch mehr erreicht als erhofft: sie (und damit das tatsächlich wichtige Thema Männergesundheit!) finden breite Beachtung. Und die politisch-korrekte Haltungselite darf schon mal tief Luft holen, um gleich bei nächster Gelegenheit – also der nächsten mutigen Kommunikationsaktion – laut „SEXISMUS!!!!“ zu schreien.“
Nach der lauten Kritik von Feministinnen und pikierten Online-Kommentatoren veröffentlichte die Techniker Krankenkasse ein Statement. Darin heißt es unter anderem: „Diversität, Gleichstellung und respektvolles Miteinander sind uns sehr wichtig. Sexismus in jeglicher Form lehnen wir ab.
Früherkennung von Hodenkrebs verdient mehr Aufmerksamkeit, denn durch eine einfache Untersuchung steigt die Chance auf eine erfolgreiche Behandlung. Um diese Aufmerksamkeit zu schaffen – insbesondere bei jüngeren Männern, die in hohem Maße zu den Betroffenen von Hodenkrebs gehören – hat die TK bewusst einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt und die Aufklärung darüber in einem pornografischen Umfeld platziert.
Aufklärung muss dort stattfinden, wo sie die Menschen erreicht. Dafür konnte die TK die Darstellerin Anny Aurora gewinnen, die in Zusammenarbeit mit medizinischen Expertinnen und Experten zum Thema Hodenkrebs aufklärt.“
Jedoch führte diese Ausführung nicht zum erwünschten Ergebnis. Im Gegenteil, viele störten sich an der Äußerung, man wolle die Zielgruppe eben da ansprechen, wo man sie gut erreiche. Sprich: im Pornoumfeld. Wieder rief es Empörte auf den Plan. Schließlich könne man Männer auch ganz anders erreichen, und überhaupt sei es eine böse Unterstellung, zu behaupten, dass alle Männer Pornofilme konsumierten.
The life-saving Handjob: Nicht überall, wo Sex drauf steht, ist Sexismus drin
Im Podcast „turi2 Clubraum“ vom 4. Februar kam Playboy-Herausgeberin Myriam Karsch zu Wort und thematisierte den Shitstorm, der über den „life-saving Handjob“ und die TK im Netz herüberzog. Ihr Urteil: „Nicht überall, wo Sex drauf steht, ist Sexismus drin“, so die Mitgründerin des Kouneli-Verlags, zu dem auch der deutsche Playboy gehlrt. Viel mehr handele es sich um eine gelungene Übertreibung.
In der Podcast-Folge pflichtet ihr „turi2“-Co-Moderatorin Aline von Drateln bei und findet an dem Spot „überhaupt nichts, das man kritisieren könnte“. Wichtig sei es, nicht eine Art Sexismus-Automatismus zu entwickeln und bei jeder Gelegenheit die Keule zu schwingen.
Auch wenn der Shitstorm nach wenigen Tagen über die Aktion der Techniker Krankenkasse hinübergezogen sein wird, bleibt die Frage: Findet sich in dem Video Sexismus? Werden durch die Veröffentlichung tatsächlich gleich Männer und Frauen herabgewürdigt?
Rund ein Viertel aller Suchanfragen im Internet drehen sich um das Thema Porno
Zahlen der Plattform „Pornhub“ aus dem Jahr 2018 zeigen, dass etwa ein Viertel aller deutschen Frauen Pornos konsumieren. Bei den Männern sind es sogar 76 Prozent. Und auch ohne diese Zahlen dürften sich die allerwenigsten Männer angegriffen fühlen, wenn die Techniker Krankenkasse schreibt, dass sie dort aufklären möchte, wo man die Zielgruppe gut erreicht. Zur Wahrheit im Jahr 2022 gehört eben, dass Pornografie längst im Mainstream angekommen ist. Rund ein Viertel aller Suchanfragen im Internet drehen sich um das Thema Porno. So die nackten Zahlen.
„Porno und Feminismus schließen sich nicht gegenseitig aus“
Die Grundsatzfrage, ob sich Erotik und Pornografie mit Feminismus verbinden lassen, ist weit älter als das Internet. Eine klare Meinung dazu hat zum Beispiel die Wissenschaftlerin und Autorin Madita Oeming. Im Playboy-Interview der Februar-Ausgabe 2021 spricht Oeming diese Problematik an und wirbt für einen liberalen Umgang mit pornografischen Inhalten. Vielen Menschen falle es jedoch schwer einen Porno zu sehen, „ohne sofort zu denken, dass die Darstellerin benutzt und ausgenutzt wird.“
Sie unterscheidet im Interview zwei feministische Gruppen: „die eine […] verteufelt Pornos an sich und will sie mit staatlicher Kontrolle am liebsten vollständig verbannen. Die andere Gruppe, zu der ich mich zählen würde, glaubt an die Möglichkeit, die Darstellung von explizitem Sex besser und gleichberechtigt zu gestalten. Porno und Feminismus schließen sich in unseren Augen nicht gegenseitig aus.“
Wie oft haben Sie sich in Ihrem Leben Gedanken um die Früherkennung von Hodenkrebs gemacht?
Es scheint für unsere Zeit typisch, dass zwar viel und sehr emotional über das Video gesprochen wurde, der eigentliche, ehrenwerte und wichtige Zweck des „life-saving Handjob“-Clips in den Hintergrund geriet: Aufklärung. Wie oft haben Sie sich in Ihrem Leben Gedanken um die Früherkennung von Hodenkrebs gemacht? Haben Sie mit Ihrem Sohn darüber gesprochen? Haben Sie sich selbst schon einmal abgetastet? Eben.
Und wo, wenn nicht beim Sex – egal ob mit dem Partner oder sich selbst – bietet sich eine bessere Gelegenheit, die Hoden auf mögliche Krebsvorzeichen zu überprüfen? Das Video beschreibt ein durch und durch realistisches Szenario, wenn auch die Umstände, die zum Geschlechtsakt führen, typisch Porno, unglaubwürdig erscheinen. Ein Umstand, den man einem mündigen Publikum aber durchaus zumuten kann.
Bei der Darstellerin handelt es sich um eine selbstbewusste und erfolgreiche Sex Workerin. Ihre Figur ist es, die den Nachbarn hereinbittet und die Initiative ergreift. Von Unterwürfigkeit oder Erniedrigung jedoch keine Spur.
Wenn wir Sex im Jahre 2022 als etwas Positives betrachten wollen, müssen wir die Pornografie besprechen
Zur Widersprüchlichkeit unserer Zeit zählt auch, dass alternative Beziehungsmodelle, Sex-Partys und Pornografie immer populärer werden. Gleichzeitig findet Sex in der öffentlichen Debatte, wenn überhaupt, nur negativ besetzt statt. Dann ist von „sexualisierter Gewalt“ oder „Machtmissbrauch“ die Rede. Es scheint so, als hätten wir aus diesen ernsten Themen heraus eine Sexfeindlichkeit entwickelt, die man sonst nur politischen Rechtsaußen oder religiösen Extremisten zutraute. Dabei drohen wir den Grad an sexueller Freiheit zu verlieren, den sich viele Generationen vor uns hart erkämpfen mussten. Oder wie „turi2“-Moderatorin Aline von Drateln warnte: Vorsicht vor dem Sexismus-Automatismus!
Denn wenn wir Sex im Jahre 2022 als etwas Normales und Positives betrachten wollen, müssen wir auch Erscheinungen wie Pornografie besprechen und rezipieren. Dass eine deutsche Krankenkasse eine Pornodarstellerin engagiert, könnte man in Wahrheit als progressive Idee verstehen. Sex Worker stattdessen unter einen Generalverdacht zu stellen und ihr Engagement bei einer Werbekampagne zu kritisieren, spricht Sexarbeitern einen Platz in unserer Gesellschaft ab. Als Alternative zum nötigen, liberalen Umgang bliebe am Ende nur noch das Verbot. In einer Zeit, in der selbst die katholische Kirche das Zölibat in Frage stellt, kann in einer Porno-Prohibition wirklich niemand einen ernsthaften Fortschritt sehen.
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