Die untergehende Sonne bricht durch die Wolken und taucht Shukhuti für in paar Minuten in goldenes Licht. Die flachen Häuser, die Obstgärten, die Straßenstände der Bierverkäufer, alles leuchtet. Und die verschwitzten, staubbedeckten Gesichter der Männer, die auf der Hauptstraße des Dorfes ein monströses Menschenknäuel bilden, sehen aus wie gemalt. Ein mittelalterliches Sittenbild. Es wäre das perfekte Licht für eine große, glanzvolle Heldentat – doch leider zeichnet sich nichts dergleichen ab.
Seit drei Stunden kämpfen die Männer nun schon. Sie sind müde, ausgezehrt, doch das Ringen geht weiter. Die Menschenmasse wogt im Kampf um den Ball, der sich irgendwo unter all den Körpern befinden muss, hin und her. Jede Sekunde könnte sich eine Traube von Männern aus dem Knäuel losreißen und mit dem Ball auf dem Weg zur Ziellinie alles niederwalzen, was ihr im Weg steht. Das ist es, worauf die Zuschauer warten. Vergeblich. Wenn es so weitergeht, werden die Männer noch die ganze Nacht hindurch kämpfen. Lelo heißt das legendenumwobene Spektakel, das jedes Jahr zum orthodoxen Osterfest im georgischen Shukhuti unweit der Schwarzmeerküste stattfindet. Die Bewohner des Dorfes, ein friedfertiges Völkchen eigentlich, treten bei einem Wettkampf gegeneinander an, der sich wohl am besten als eine Mischung aus Rugby und Massenschlägerei beschreiben lässt.
In der Mitte des Dorfes wird ein kürbisgroßer, etwas un- und eiförmiger Ball in die Höhe geworfen, und dann versuchen die Teams aus Zemo-Shukhuti (Ober-Shukhuti) und Kvemo-Shukhuti (Unter-Shukhuti), unter Einsatz all ihrer Kräfte die schwere Lederkugel in die eigene Dorfhälfte zu befördern – und dort schließlich über eine jeweils von einem Bach markierte Grenzlinie. Etwa 500 Meter liegen die beiden Bäche auseinander. Alles dazwischen ist Spielfeld: Straßen, Plätze, Gärten, Terrassen. Und was die Regeln angeht, war es das im Grunde auch schon. Kein Zeitlimit, kein Schiedsrichter, keine Begrenzung der Teilnehmerzahl. Wer will, darf mitmachen. Man muss nicht einmal Dorfbewohner sein. Und etwa 500 Männer wollen jedes Jahr. Obwohl sie eines genau wissen: Es wird Knochenbrüche geben – und vielleicht auch wieder einen Toten.
Seit 300 Jahren gehört Lelo in Shukhuti fest zur Dorftradition. Die Wurzeln des Spiels sollen sogar 3000 Jahre zurückreichen. Die alten Georgier, heißt es, hätten es zum Aufwärmen gespielt, bevor sie in die Schlacht zogen. Heute ist das Lelo selbst die Schlacht – und die Vorbereitungen darauf eine Zeremonie. Sie beginnt im Hof eines hölzernen Dorfhauses und wird geleitet von einem runden, bärtigen Mann in schwarzem Priestergewand, den alle Vater Sawa nennen.
Vater Sawa steht in der Mitte des Hofes und sieht mit prüfendem Auge dabei zu, wie ein durchtrainierter Kerl mit dicken Fingern die Luft aus einer medizinballgroßen Lederkugel presst und anschließend eine Vertiefung hineinformt. Dann nimmt Vater Sawa das Leder mit großer Geste entgegen, lässt sich etwa einen halben Liter Wein in die Vertiefung füllen, deklamiert mit pathetischer Stimme einen ziemlich langen Trinkspruch – und trinkt den Ball in einem Zug aus. Beifall, Jubelrufe. Und während nun die weiteren Teilnehmer der Zeremonie Vater Sawas Beispiel folgen und sich mittels des zum Kelch geformten Balls daranmachen, eine 20-Liter-Flasche Rotwein sowie eine etwas kleinere Flasche Weißwein zu leeren, werden Sand und Sägemehl herangeschafft. Damit füllen zwei Männer nach Abschluss der Trinkrunde – und Vater Sawas Ankündigung, er werde heute „nicht weniger als fünf Liter trinken“ – die Lederpille. Ab und zu gießen sie etwas Wein hinzu, um das Gewicht zu erhöhen. Schließlich waschen sie das Riesen-Ei und legen es auf eine Waage: 14 Kilo. Vater Sawa sieht zufrieden aus.
Welches Team die Lederkugel heute als erstes über die Ziellinie befördert, wird sich erst in mehreren Stunden zeigen. Wo der Ball nach dem Spiel landet, steht aber bereits fest: auf dem Friedhof. Traditionell wird er nach dem Wettkampf auf dem Grab des zuletzt verstorbenen Dorfbewohners platziert. In diesem Jahr werden sie die Kugel vor dem Stein niederlegen, der an Otari Imnaischwili erinnert: Er starb, gerade mal 64 Jahre alt, an einem Herzinfarkt – und zwar während des letzten Lelo-Matches. Zweifel an ihrer Dorftradition oder gar Überlegungen zur Einführung neuer Regeln löste der tödliche Zwischenfall bei den Bewohnern Shukhutis allerdings nicht aus. Lelo bleibt Lelo, Tradition ist Tradition. Und so steht um 17 Uhr, als Vater Sawa sich mit dem Ball in der Hand seinen Weg zum Anstoßpunkt bahnt, auch ein junger Mann mit dunklen Augen und kurz geschorenen Haaren inmitten der Menge – er heißt Irakli und ist der Sohn des Verstorbenen.
Mit einem Schuss aus einer doppelläufigen Flinte wird das Match eröffnet: Vater Sawa wirft die Kugel in die Luft und kämpft sich dann so schnell wie möglich aus der Meute, die über das Lederteil herfällt wie Piranhas über blutiges Fleisch. Mittendrin: Irakli. Der durchtrainierte 21-Jährige ist Teil des pulsierenden, etwa 50 Mann starken Pulks, der sich um den Ball prügelt. Drumherum werden Dutzende Handys hochgehalten, die das Spektakel filmen. Und je nachdem, in welche Richtung sich der tobende Pulk verschiebt, entsteht unter den Zuschauern eine massenpanikartige Fluchtbewegung. Keiner will in das Gedränge geraten. Immer wieder kämpfen sich Männer aus dem Menschenknäuel heraus oder hinein. Und schon bald werden erste Verletzte und Bewusstlose herausgeschleift. Die Zuschauer auf den Zäunen, Mauern und Bäumen johlen.
Spektakuläre Pässe, dynamische Einzelgänge: All das gibt es beim Lelo nicht. Der Ball verschwindet zu Beginn des Spiels irgendwo inmitten der Männer und taucht fast nicht mehr auf, während die Menschenmasse wie ein Lavastrom aus Leibern durch das Dorf fließt. Über die Hauptstraße, durch Vorgärten, an Stacheldrahtzäunen und Häuserwänden entlang. Wer zu welchem Team gehört, lässt sich als Außenstehender nur erahnen. Die Männer tragen keine Trikots. Wozu auch? Sie kennen einander, sie sind Nachbarn oder Freunde. Das erklärt auch, weshalb sich inmitten des Mobs immer wieder Männer, die eben noch rangen, rempelten und schlugen, plötzlich in den Armen liegen und auf die Wangen küssen.
Nach etwa zwei Stunden hat sich die adrenalingeladene Euphorie merklich gelegt, und das Spiel lässt eine
erste Tendenz erkennen: Das Team aus Zemo-Shukhuti, Verlierer der vergangenen Jahre, ist drauf und dran, für eine Überraschung zu sorgen. Minutenlang walzt der Knäuel aus Männern langsam in Richtung von Zemos Ziellinie. Doch die Kerle aus Kvemo-Shukhuti stemmen sich mit aller Macht dagegen, schieben, drängen, zerren. Auch Irakli gehört zu ihnen. Eine braune Schicht aus Staub und Schweiß überzieht sein Gesicht, das aggressiv Stechende seines Blicks ist erloschen. Es ist nun ein zäher Abnutzungskampf.
Die Sonne geht bereits unter, als plötzlich noch einmal heftige Bewegung ins Spiel kommt. Ein paar Männer aus der Mitte bäumen sich auf, und der Mob gewinnt – der Sonne folgend – frischen Schub gen Westen. Die Männer aus Kvemo scheinen das Spiel zu drehen. Innerhalb von Minuten verlagert sich der Pulk aus Zemos Hälfte über den Dorfplatz hinweg in Kvemos Ortsteil. Ein wackliger Holzzaun wird niedergetrampelt, ein Obstgarten umgepflügt – und dann, im Licht der Straßenlaternen, beginnt Kvemos Offensive: Mit Schwung kämpfen sie sich aus dem Garten heraus und schieben sich, nachdem eine Vorhut einige im Weg stehende Müllcontainer sowie einen Motorroller entfernt hat, über den asphaltierten Platz vor einem Lebensmittelladen. Und überqueren schließlich unter großem Jubel die Ziellinie.
Vom Balkon eines zweistöckigen Holzhauses zeigen die Sieger kurz darauf stolz ihre Trophäe. Und ein paar Männer im Publikum darunter packen den jungen Irakli und werfen ihn unter Jubel und Geschrei in die Höhe. Er ist der Held des Tages.
Spät am Abend ist der Dorfplatz leer. Wo vor wenigen Stunden noch das Leben tobte, ist keine Menschenseele mehr zu sehen. Nur auf dem kleinen Friedhof von Shukhuti hat sich noch eine Gruppe Menschen versammelt. Kerzen brennen auf einem Tisch, aus einem Topf mit gebratenem Hammelfleisch steigt Dampf auf, Gurken und Tomaten glitzern in einer großen Schale, daneben stehen mehrere Karaffen Wein. Die Familie von Irakli ist mit Freunden zusammengekommen, um des vor einem Jahr gestorbenen Otari zu gedenken. Jemand spricht einen Trost aus, alle stoßen an. Auch Irakli, der Held des Tages, sitzt mit am Tisch und blickt in das Licht einer Kerze, das flackernd sein Gesicht erhellt. „Lelo ist kein Spiel“, sagt er mit rauer Stimme. „Es ist ein Kampf. Und wenn du ihn durchgestanden hast, bleibt dir das für immer. Ich bin glücklich, dass wir gewonnen haben. Und ich weiß, mein Vater ist es auch.“
So ist das Leben im Dorf. Du weißt immer, wo du hingehörst, was zu tun ist und wo du enden wirst. Und wen kümmert schon, wann es so weit ist. Was zählt, sind nur die Erinnerungen, die einer hinterlässt.
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