Tief im wilden Westen Brasiliens, fern von Copacabana und Samba, trifft unser Reporter Christoph Wöhrle die wahren Helden des Landes: die Cowboys von Pantanal, die ihren harten Job und ihre Freiheit lieben. Die täglich darum kämpfen. Und doch ihrem Ende entgegenreiten.

Ein Bulle der Rinderrasse Nelore hat einen Dickschädel mit ziemlich spitzen Hörnern dran. Und wenn man ihm seinen Willen aufzwingt, kann er ganz schön sauer werden. Roberto Silva hat nur ein lächerliches Stöckchen in der Hand und muss zurückweichen. "Hau ab!", herrscht er den Bullen an, der ihn in die Ecke eines kleinen Gatters drängt und nun schnaubend vor ihm steht - bereit, ihn auf die Hörner zu nehmen.

Worte helfen nicht mehr. "Jetzt bloß keine falsche Bewegung machen, Roberto", denkt man gerade noch, da knallt es: Silva drischt dem Bullen sein Stöckchen mit einem einzigen Hieb so fest auf den Schädel, dass das Tier wie geschockt innehält - und sich tatsächlich sich zur Flucht wendet.

Credit: Marcel Schwickerath

Der Cowboy wischt sich den Schweiß aus dem Nacken, schiebt seinen breitkrempigen Lederhut wieder zurecht und schwingt sich übers Gatter. Den Pfiff, den sein junger Kollege Jailton ausstößt, halb erleichtert, halb anerkennend, hört Silva nicht. Oder er tut, als ob er ihn nicht hört. Schweigt und schaut weg, rüber zur Herde.

Hier draußen, im Pantanal, dem endlosen Sumpfgebiet im Westen Brasiliens, musst du dich jeden Tag beweisen. Vor den Rindern, vor den Männern, vor dir selbst.

Der Cowboy - ein Auslaufmodell wie der Marlboro-Mann

Fazenda Novo Horizonte heißt die Rinderfarm, auf der Silva, 54, arbeitet. Sie liegt zwei verdammt holprige Autostunden von der Kleinstadt Corumbá entfernt, die wiederum fünf etwas weniger holprige Autostunden vom nächsten Flughafen entfernt liegt. Sie ist die Heimat einiger der letzten Cowboys der Welt.

Silva, einer von ihnen, ein wortkarger Mann von stolzer Haltung, erinnert in Momenten wie diesem an den Hollywood-Archetyp seiner Zunft. Ein Auslaufmodell wie der Marlboro-Mann. Denn die fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft stellt neue Anforderungen an die Mitarbeiter. Technisches, biologisches und betriebswirtschaftliches Know-how statt Mut, Kraft und Geschick.

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Der Cowboy von morgen wird kein Cowboy mehr sein. Eher ein Facharbeiter in einem durchrationalisierten Viehzuchtbetrieb. Silva und die Männer von Corumbá wissen das - und genießen den letzten Hauch von Freiheit und Abenteuer. Er liebe seinen Job, wird Silva später verraten, mehr als jede Frau.

62 Quadratkilometer - ein eher mittelkleiner Bauernhof

Die Farm, auf der Silva und Jailton arbeiten, gehört dem 41-jährigen Carlos Guanitá, den alle nur Carlão nennen, den großen Carlos, und umfasst 62 Quadratkilometer - was in Brasilien eher einem mittelkleinen Bauernhofbetrieb entspricht. Carlão, ein wuchtiger Kerl mit wachen Augen und zupackender Art, sitzt auf einem Holzzaun und lässt den Blick übers Gelände schweifen.

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Rund 4000 Nelore-Rinder stehen auf den offenen Weiden und fressen Gras. Nichts als Gras, das auf den riesigen Weiden im Überfluss gedeiht. "Deshalb ist die Fleischqualität in Brasilien auch so gut", sagt Carlão. "Außer Argentinien gibt es für uns keine Konkurrenz auf der Welt."

Gemeinsam mit seinen zehn Cowboys hat Carlão heute einen besonderen Job zu verrichten: Hunderte von Rindern müssen abgezählt, markiert und fürs Verladen geordnet werden. Die einen werden morgen auf Lastwagen verteilt, die zum Schlachthof von Corumbá fahren. Die anderen Tiere, handverlesene Prachtexemplare wie Silvas heißblütiger Wutbulle, fahren zur Rinderauktion.

Die Brasilianer lieben ihr Rindfleisch

Carlão und seine Männer produzieren einen von Südamerikas größten Exportschlagern. Nach Indien ist Brasilien der zweitgrößte Rindfleisch-Exporteur der Welt. Rund zwei Millionen Tonnen Schlachtgewicht verließen 2015 das Land. Sie gingen vor allem in arabische Staaten, nach Europa, Russland und China.

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Brasiliens Wettbewerbsvorteil: der Platz für riesige Weideflächen und die niedrigen Lohnkosten. Die Produktion einer Tonne Rindfleisch kostet hier umgerechnet nur 1800 Euro - in Deutschland sind es fast 4800 Euro.

Auch die Brasilianer selbst lieben ihr Rindfleisch. In den Fleischtempeln des Landes gibt es "rodizio de carne": Die Kellner kommen mit großen Spießen an den Tisch und schneiden den Gästen das Fleisch direkt auf den Teller. Essen kann man, bis nichts mehr geht. Das tun die Brasilianer auch. Und wer sich ihnen jemals dabei angeschlossen hat, weiß, warum. Es schmeckt sagenhaft gut.

"Wir können Samba, Fußball und Fleisch"

"Wir wissen halt, was wir da machen. Wir können Samba, Fußball und Fleisch", fasst Carlão es zusammen. Er ist auf Farmen groß geworden. Kühe waren für ihn, was für andere Jungs Matchbox-Autos sind: robuste Spielzeuge. In der Stadt, da würde er eingehen, sagt Carlão.

Er hat es einmal versucht: Seine wohlhabende Familie schickte ihn zum Studium nach Campo Grande, Tiermedizin. "Aber dieses Büffeln war nichts für mich. Und die Frauen an der Uni waren auch anders als auf dem Land. Irgendwie so moralisch."

Carlão blickt auf. Die Kälber kommen. In der Ferne sieht er Silva reiten, der sich nach seiner kleinen Heldentat aufs Pferd geschwungen hat und jetzt mit einigen Kollegen die Jungtiere von den Weiden in Richtung Gatter treibt. "Hepa!", ruft Silva dabei immer wieder und gibt seinem Pferd die Sporen. Ein "vaqueiro", wie der Cowboy in Brasilien genannt wird, sieht Rinder und Pferde als Arbeitswerkzeug. Groß gestreichelt wird da nicht.

Credit: Marcel Schwickerath

Als die Kälber am Gatter ankommen, springt Carlão vom Zaun und beginnt, die Tiere durch einen hölzernen Korridor in die Umzäunung zu treiben. Mit der flachen Hand schlägt er einigen aufs Hinterteil und treibt sie voran. "Stempel drauf!", ruft er dabei. Mit violetter wasserfester Farbe verpasst einer von Guanitás Mitarbeitern dem Tier eine Nummer auf den Rücken.

Silva steht etwas weiter vorn und sortiert - jetzt mit einem roten Fähnchen an seinem Stock - die Tiere: Bullen, Kühe, Kälber. Ab und zu saust sein Stock auf ein Tier nieder, das nicht so will wie er. Vielleicht spüren die Tiere, dass sie nicht mehr lange zu leben haben. Wer weiß das schon. Rinder haben einen siebten Sinn, glauben die Leute hier in der Gegend.

Cowboys halten es mit der Treue wie die Matrosen

Silva ist wie sein Chef Carlão auf einer Fazenda geboren. Sein Vater war Vaqueiro. Und dessen Vater ebenso. Als Silvas Altersgenossen in den Städten noch Fangen spielten, saß er schon auf Pferderücken und setzte Brandzeichen. Und als andere Jungs zum ersten Mal mit Zunge küssten, trieb er bereits seine erste eigene Herde. Zur Schule ging er als Kind selten, mit dem Lesen und Schreiben hapert es bis heute. Lange Zeit war das kein Problem.

Silvas Leben, das sind Rind und Pferd, Lasso und Peitsche, Whisky und Lagerfeuer. Er war noch nie im Internet, hat noch nie ein Hochhaus betreten. Vier Kinder hat er, aber er sieht sie kaum. Mit der Mutter ist er nicht mehr zusammen.

Die Cowboys hier draußen halten es mit der Treue in etwa wie die Matrosen. Zu viel Liebe sei eine Schlinge um den Hals, findet Silva. "Für mich ist der Job wichtiger als jede Frau. Ein Vaqueiro fürchtet sich nicht vor dem Alleinsein. Du musst hart sein in diesem Job. Die Natur ist rau. Die Tiere sind gefährlich. Nur wer nicht vom Pferd fliegt, besteht."

Die Freiheit, Leben zu beenden

Am frühen Nachmittag wird es plötzlich hektisch im Gatter: Eine Kuh hat sich ein Bein gebrochen. Wenn die Tiere in die engen Korridore getrieben werden, stürzt manchmal eines und wird von den nachfolgenden Rindern überrannt. "So was mögen die Tierschützer nicht", sagt Carlão.

Die verletzte Kuh humpelt stark und wankt, als wäre sie gerade geboren worden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Sie wird heute noch sterben. Auch das gehört zum Cowboy-Job: die Freiheit, Leben zu beenden.

Credit: Marcel Schwickerath

Es sind nicht nur Tierschutz-Aktivisten, die das Treiben auf den Rinderfarmen kritisieren. Auch Umweltschützer beklagen, dass die Fleischproduktion so viel Fläche einnimmt und ein Grund ist für die Abholzung von immer mehr Regenwald. Brasiliens Politiker bekunden zwar immer wieder, den Wald und damit das Weltklima schützen zu wollen.

Aber in der Realität sieht es anders aus: Laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) macht Brasilien pro Jahr durchschnittlich 26.000 Quadratkilometer Wald platt. Die Welt will Fleisch, die Branche Profit. Also werden die Flächen ausgeweitet und immer intensiver und unter Einsatz von immer mehr Technik genutzt.

Für die Umwelt ist das schlecht. Für Cowboys wie Silva ist es sogar der Anfang vom Ende.

Das klassische Cowboyleben gibt es kaum mehr

Früher bekam Silva ein festes Gehalt, nicht viel, aber er konnte mit seinem Geld planen. Heute wird er als Tagelöhner gebucht. Wenn auf der Farm gerade wenig zu tun ist, sitzt Silva auf dem alten Stoffsofa in seinem 1-Zimmer-Apartment in Corumbá und wartet darauf, endlich einen Anruf zu bekommen.

"Mir fehlt das, wochenlang auf den Weiden zu sein und jeden Tag meine Arbeit zu tun", sagt er. Aber selbst wenn er regelmäßig gebucht wird, muss er immer häufiger Dinge tun, die nichts mit dem klassischen Cowboyleben gemein haben. Dann fährt er den ganzen Tag Traktor, repariert Zäune oder hilft bei der künstlichen Besamung von Kühen.

Credit: Marcel Schwickerath

Während Cowboys einst im Sattel lassoschwingend um ihre Herden fegten, müssen sie heute wissen, welche Bullen-Rassen den besten Samen geben, wie man die Vermehrung bei einer Herde errechnet, und im Idealfall auch, wie man vom Hubschrauber aus Tiere treibt. Silva hat nicht einmal einen Führerschein.

Funkgeräte statt Revolver

Irgendwann werden Cowboys Schutzhelme statt Stetson-Hüte tragen. Sie tragen heute schon Funkgeräte statt Revolver. Silvas junger Kollege Jailton, 17 Jahre alt, kann lesen, schreiben, rechnen. Vielleicht wird er sogar studieren und einmal seine eigene Farm führen. Wenn nicht er, dann gewiss die nächste Generation.

Credit: Marcel Schwickerath

"Früher war es besser", sagt Silva. "Aber die alten Zeiten kommen nicht zurück." Er hängt seinen Hut über einen Zaunpfahl und zündet sich eine Zigarette an. Die Kuh mit dem gebrochenen Bein steht allein vor ihm in einem Gatter. Die anderen Männer treiben sie in einen Korridor und schließen vor und hinter ihr die Tore. Die Kuh ist fixiert.

Was nun kommt, ist Chefsache. "Ich werde sie schnell erlösen", sagt Carlão und schickt hinterher, dass davon keine Fotos gemacht werden dürften. Er zieht das Messer aus seinem Gürtel. Die Erlösung dauert 30 Sekunden.

"Tanzen ist etwas für Stadtmenschen"

Am frühen Abend ist die Arbeit geschafft. Für die Rinder, die morgen in den Schlachthof von Corumbá gebracht werden, wird Carlão jeweils ein paar hundert Dollar erhalten - umgerechnet etwa 350 Euro für eine dreijährige Kuh, etwas mehr für einen gleich alten Bullen. Was die anderen Rinder auf der Auktion einbringen, wird sich zeigen.

Etwa 24 Stunden später. Es ist Samstagabend, und ganz Corumbá feiert ein Volksfest. Eine Rinderauktion ist hier mehr als bloß Fleischbeschau. Es gibt Karussells, ein Riesenrad, Hotdogs, Zuckerrohrschnaps und brasilianische Countrymusik. "Meu doce amor" - "Meine süße Liebe", schmachtet der Sänger auf der Bühne vor dem Festzelt ins Mikrofon.

Im Zelt läuft währenddessen die Auktion. Die Männer tragen breite goldene Gürtelschnallen. Ihre Frauen hohe Hacken, mit denen sie tief in den weichen Boden einsinken. Im Eiltempo rattert der Moderator durch die Gebote. Rinder im Wert von umgerechnet 315.000 Euro werden heute versteigert.

Credit: Marcel Schwickerath

Für Farmer wie Carlão geht es dabei neben dem Geld auch ums Prestige. Man kommt, um sich zu zeigen. Um zu präsentieren, wie gut die kräftigsten Tiere der Herde gewachsen sind, wie gut man züchten kann. Übers Geschäft wird viel gesprochen, über die Aussichten für die kommenden Monate. Über die Zukunft der Cowboys redet an diesem Abend niemand.

Roberto Silva ist nicht zum Volksfest gekommen. Er hat nach zwölf Stunden Arbeit einen Mate-Tee getrunken, Moskitos auf der Haut totgeklatscht und Zigaretten geraucht. Jetzt schläft er längst, denn morgen um fünf geht der Job weiter. Er hat in seinem Leben noch nie getanzt. Tanzen ist etwas für Stadtmenschen, sagt er. Oder für die Jüngeren, für die Freiheit etwas anderes bedeutet als für ihn.