Als vor einigen Monaten die deutsche Nationalmannschaft in Berlin mit 0:1 gegen Brasilien verlor, machte Toni Kroos etwas sehr Ungewöhnliches. Er trat nach dem Spiel vor die Mikrofone und sagte: „Heute hatten einige Spieler die Möglichkeit, sich so kurz vor der Weltmeisterschaft zu präsentieren und zu empfehlen – sie haben es nicht getan.“
Niemand nahm Kroos die Sätze übel. Nicht etwa, weil er Recht hatte – es spielt gemeinhin keine Rolle, ob man Recht hat oder nicht, die Mannschaftskollegen werden nicht öffentlich kritisiert. Kroos aber sah man es nach. Denn es gibt genau einen Spieler, der die eigenen Mitspieler öffentlich an den Pranger stellen darf: den Chef. Natürlich ist Kroos kein Oliver Kahn, kein Stefan Effenberg. Kroos ist Kroos, ein leiser, ein zurückhaltender Typ, der nicht viel Aufhebens um sich macht. Ein stiller Chef, aber ohne Frage: der Chef.
Es ist eine überraschende Entwicklung. Normalerweise gilt es für die Karriere in der deutschen Nationalmannschaft als nicht sehr förderlich, die Bayern zu verlassen. Nicht einmal Richtung Real Madrid, wo rund 30 Millionen Ablöse rein gar nichts über die Stammplatzaussichten sagen. Toni Kroos riskierte viel, als er 2014 den deutschen Rekordmeister verließ und nach Spanien ging. Doch Madrid sollte die beste Entscheidung seines Lebens sein. Bei Real wurde er zum Herz des deutschen Teams. Zum einzigen wirklichen Weltstar, den der deutsche Fußball derzeit hat.
Die Madrider Mannschaftskollegen nennen ihn "Don Antonio"
Madrid an einem sonnigen Frühlingsmorgen. Toni Kroos hat heute den Audi genommen. Der dunkle Wagen fährt auf einer ungeteerten Parkstraße, daneben akkurate Buchsbäume, gepflegte Pinien, satter Rasen. Gleich dahinter schmiegt sich ein Hügel an einen kleinen See, in den Büschen blinken Überwachungskameras. Man sieht keine Spaziergänger, keine Kinder, niemand geht mit dem Hund raus.
Im Hintergrund ist Kroos’ Haus zu erkennen. Ein riesiger hellbrauner Klotz aus Travertinstein. Daneben, in einem fast identischen Klotz, wohnt Cristiano Ronaldo. Unweit davon Gareth Bale. Auch Zinédine Zidane, Sergio Ramos und noch einige andere Real-Madrid-Spieler residieren in „La Finca“, einem bewachten Luxuswohngebiet im Nordwesten Madrids. Es ist ein riesiges grünes Areal, gesprenkelt mit modern-wuchtigen Gebäuden, die an Normandie-Bunker erinnern. Die Oase der Madrider Prominenz.
Kroos lebt hier seit seinem Wechsel von den Bayern. Es gefällt ihm hier. „Es ist ruhig, und ich kann das tun, was ich am liebsten mache: Zeit mit meiner Familie verbringen.“ Das Haus hat 1300 Quadratmeter, das Grundstück 4500, mehr als genug Platz für seine Frau Jessica, seine zwei kleinen Kinder und die zwei Beagles. Vormieter war übrigens Fernando Torres, der Atlético-Stürmer. Seitdem weiß man, was die Hütte ungefähr kostet: 25.000 Euro. Monatlich. Kalt natürlich.
Es ist kurz nach neun. Kroos fährt zur Arbeit. Um zehn ist Mannschaftstraining. Die spanische Liga ist zwar noch nicht beendet, aber längst entschieden. Barca, Reals ewiger Rivale, ist in diesem Jahr Meister geworden. In Madrid kann man gut damit leben, seit klar ist, dass man im Champions-League-Finale steht.
„Es war ein wenig Glück dabei“, beschrieb Kroos die Tatsache, dass im Halbfinale Bayern München über weite Teile das Madrider Tor belagerte. Die Wahrheit ist aber, dass es völlig egal ist, wie unverdient die Bayern ausgeschieden sind. Viel wichtiger ist für die Spanier ein anderer Fakt: Seit vier Jahren ist Kroos bei den Königlichen, seitdem läuft es in der Champions League. Damals war man sich in München sicher, dass der Verlust des jungen Mittelfeldspielers verkraftbar wäre. Gerade Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge waren nicht der Meinung, Kroos’ Gehaltsforderungen erfüllen zu müssen. Pep Guardiola hatte ihn ein paar Mal nicht spielen lassen, wollte ihn aber auf keinen Fall verkaufen. Die Bayern taten es dennoch und sind keineswegs daran zugrunde gegangen. Sie begingen nur einen ihrer größten sportlichen Fehler der jüngeren Clubgeschichte.
Seit Kroos nach Madrid gewechselt ist und sofort Stammspieler wurde, hat Real dreimal das Champions-League-Finale gewonnen. Es gibt kaum jemanden bei Real Madrid, der das nicht erwähnt, wenn man nach Kroos’ Bedeutung für den Verein fragt. Ganz gleich, mit wem man sich in der Geschäftsstelle unterhält, alle sind sich einig, dass „Toño“, „Antoñito“ oder „Don Antonio“, wie die Mannschaftskollegen ihn nennen, ein entscheidender Baustein für den Erfolg der letzten Jahre war.
"Jeder, der Fußball liebt, muss Toni Kroos lieben"
„Er ist unser Uhrwerk“, sagt ein Vereinsangestellter, „unser Kaiser, den die Münchner aus Gründen, die wir bis heute nicht verstehen, verkauft haben.“ Man habe 100 Millionen für Bale nach England und 30 für Kroos nach München überwiesen – zusammengenommen sei das mehr als in Ordnung gewesen, heißt es, wobei Bale 70 Millionen zu teuer und Kroos 70 zu billig gewesen sei.
Es war Carlo Ancelotti, Zidanes Vorgänger auf dem Trainerposten, der sagte: „Jeder, der Fußball liebt, muss Toni Kroos lieben.“ Und als ein Reporter den Italiener bat, den Spielaufbau Madrids kurz zu umschreiben, sagte er: „Das ist einfach: Ball zu Kroos.“
Zinédine Zidane, ein Trainer, der in der vergangenen Saison praktisch jedes Spielsystem ausprobiert hat, hat das beibehalten. Ball immer zu Kroos, das ist ein nicht geringer Teil von Madrids Taktik. Und schaut man sich die abgelaufene Saison an, fällt auf, dass Real immer genau so gut spielt wie Kroos. Ronaldo mag zwar die meisten Tore erzielen, aber wenn er während einer Partie komplett ausfällt, was diese Saison des Öfteren vorgekommen ist, dann heißt das nicht, dass Madrid verliert. Nur wenn Toni Kroos einen schlechten Tag erwischt, ist Real wirklich in Schwierigkeiten.
Es gibt, Stand Sommer 2018, genau drei Fußballer bei den Königlichen, die unersetzlich sind: Cristiano Ronaldo, der beste Stürmer, den Real Madrid jemals hatte. Sergio Ramos, der beste Verteidiger, den Real Madrid jemals hatte. Und Toni Kroos, den unauffälligen, sehr unaufgeregten Ostdeutschen aus Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern, der in den letzten Jahren zum passsichersten Spieler des Planeten avancierte.
Bei Real Madrid wie bei vielen anderen Spitzenclubs ist die Bedeutung – man könnte sagen: die Liebe, die der Verein für einen Spieler empfindet – sehr genau feststellbar: Wie lange läuft der Vertrag? Wie hoch ist die jährliche Überweisung? Kroos, 28 Jahre alt, hat einen Vertrag bis 2022. Er könnte vermutlich jederzeit verlängern, wenn er darauf bestehen würde. Ab kommender Saison wird er 20 Millionen Euro im Jahr verdienen und der mit Abstand bestbezahlte deutsche Fußballer sein.
Kroos ist mit Eigenschaften zum Weltstar geworden, mit denen man auch ein Versicherungsbüro führen könnte
Allerdings, auch das muss gesagt werden, macht es Toni Kroos seinen Fans nicht leicht. Man verliebt sich nicht sofort in sein Spiel. Er ist ein Spieler für den zweiten Blick. Ein Spieler, dessen Bedeutung oft erst deutlich wird, wenn man sich die Wiederholung anschaut. Kroos ist kein Messi, der schon lange kein Stürmer mehr ist, sondern das, was einem fußballerischen Gottesbeweis am nächsten kommt. Er ist kein Ronaldo mit Millionen von Twitter-Followern, ein Mann, der zur Marke geworden ist, weil er Professionalität, Selbstvermarktung und nicht zuletzt Verbissenheit in nie da gewesene Höhen getrieben hat. Kroos ist auch kein Thomas Müller, dem die deutschen Herzen zufliegen, weil keiner auf dem Platz so leidet und rackert wie er.
Kroos’ Spiel ist ruhig, geordnet, einfach, unspektakulär. Kroos ist weder besonders schnell noch besonders torgefährlich noch besonders dynamisch. Er ist in erster Linie unglaublich solide und konstant. Seine Passquoten liegen seit Jahren bei über 90 Prozent. Madrids Innenverteidiger, die sich den Ball oft unbedrängt zuspielen können, machen mehr Fehler. Im modernen Spitzenfußball, in dem ganze wissenschaftliche Abteilungen daran arbeiten, möglichst perfekte Spielsysteme zu entwickeln, möglichst perfekte Spieler zu fördern, entscheiden letztlich nur winzige Fehler über den Ausgang von Partien und somit ganzen Saisons. Wer das verstanden hat, kann ermessen, warum ein Spieler, der schlichtweg keine Fehler macht, so kostbar ist.
Das bedeutet allerdings auch: Kroos ist mit Eigenschaften zum Weltstar geworden, mit denen man auch ein Versicherungsbüro führen könnte. Zuverlässigkeit, Konstanz, Berechenbarkeit. Aber auf extrem hohem Niveau. Kroos verliert, ganz gleich, was passiert, nie die Nerven – seine letzte rote Karte bekam er als Jugendspieler bei den Bayern. Fans lieben Kämpfer auf dem Platz, Trainer bevorzugen Strategen. Kroos hat schon lange erkannt, was viele Profis auch Jahre nach dem Karriereende nicht einsehen wollen: Der wichtigste Körperteil im Fußball ist nicht der Fuß, auch nicht die Lunge, es ist der Kopf.
„Mir macht es Spaß, diese weniger aufregenden Aufgaben zu übernehmen. Dinge zu tun, die der Mannschaft dienen und leicht aussehen, wobei sie nicht immer so leicht sind, wie sie aussehen“, erklärt Kroos selbst sein Spiel. Natürlich hat das Konsequenzen. Seit Jahren werfen Kritiker ihm vor, ein blutleerer, unendlich langweiliger Buchhalter-Kicker zu sein. Kein Herz, nur Verstand. Es ist ein seltsamer Vorwurf. Schon allein deshalb, weil ein riskantes, verspieltes, letztlich brotloses Spiel den Zuschauern zwar gut gefällt, aber nicht so gut wie der Gewinn von Titeln.
Toni Kroos ist ein angenehmer, kluger Gesprächspartner, der sich nicht allzu ernst zu nehmen scheint. „Am besten gefällt uns, dass er bescheiden ist. Wir hatten und haben hier auch andere“, sagt ein Real-Mitarbeiter. Dazu passt eine kleine Anekdote, die man sich unter spanischen Journalisten erzählt. Kroos gibt die Interviews in Spanien nicht auf Spanisch. Die meisten Journalisten ärgert das mittlerweile. Nicht weil sich Profis weigern, die Landessprache zu lernen. Das ist man gewohnt bei Real. Gareth Bale, der schon länger als Kroos in Spanien ist, kriegt kaum einen geraden Satz heraus. Als Kroos allerdings vor einiger Zeit von einem Sender gebeten wurde, das Gespräch ausnahmsweise auf Spanisch zu führen, ließ er sich auf den Versuch ein. Er machte nicht einen Fehler. „Das ist so typisch für ihn“, sagt ein Vereinssprecher, „er hasst Fehler.“
Kellner nannte ihn die Weltpresse 2014 – heute ist er eine Art Oberkellner
Kroos ist im WM-Jahr 2018 die unangefochtene Führungsfigur im DFB-Team. Wie der Fußballsommer für den deutschen Fan ausfällt, hängt davon ab, wie gut Kroos ins Turnier kommt. Vor vier Jahren taufte ihn die internationale Presse „den Kellner“, was als Kompliment gemeint war. Kroos bediente seine Mitspieler zuverlässig, machte keine Fehler und blieb unauffällig. Diese Rolle hat sich im Grunde nicht geändert. Aber Kroos ist mittlerweile eine Art Oberkellner geworden, der Taktgeber, der bestimmt, wie und wann angegriffen wird, wann die Mannschaft sich fallen lässt, wann gepresst wird. Das deutsche Team hat seit dem Karriereende des WM-Phänomens Miro Klose keinen Weltklasse-Stürmer mehr. Das Mittelfeld entscheidet über den deutschen Erfolg. Mit anderen Worten: Toni Kroos.