Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Diesen Sommer sind mir immer wieder – meist junge – Frauen begegnet, die offensichtlich auf ein ganz bestimmtes Kleidungsstück verzichteten. Den BH. In der Bahn, im Café und beim Bummel durch die Innenstadt. Promis wie Rihanna oder Kate Moss gingen schon vor gefühlten Ewigkeiten mit gutem Vorbild und unter Shirts erkennbaren Nippeln voran. Und auch in den vergangenen Jahren wurde der No-Bra-Trend immer wieder ausgerufen, doch erst diesen Sommer schien sich das Thema zu manifestieren. Mein erster Gedanke war: Gut so! Beim zweiten und dritten Mal nachdenken fühlte ich mich jedoch ertappt. Warum finde ich persönlich Gefallen daran? Weil ich ein Mann bin, der auf Frauen steht? Klares Ja. Doch so einfach ist das nicht. Als männlicher Playboy-Redakteur hat man sicher ein spezielleres Verhältnis zum weiblichen Busen, vor allem zur blanken Brust. Sie umgibt einen und wird zum ganz normalen Alltag. Und trotzdem verliert sie nichts von ihrer Anziehung.
No-Bra-Trend: Die weibliche Brust wird noch immer ungerecht behandelt
Ich merkte schnell, dass noch mehr dahinter steckte. Warum ich Sympathien für diese Frauen hege, die auf den BH verzichten und sich so unbedarft, nur mit einem lockeren Shirt bekleidet, in den öffentlichen Raum begeben: Mut. All diese Frauen strahlten eine Lockerheit aus und ein Selbstvertrauen, das mir imponierte. Denn sicherlich ist der No-Bra-Trend ein Fashion-Thema. Doch es ist auch mehr als das. Seit Jahren ist der Hashtag #FreeTheNipple an Häuserwänden und Social-Media-Beiträgen zu lesen. Der Grund: Die weibliche Brust wird im Vergleich zur männlichen ungerecht behandelt. Entweder wird sie sexualisiert, für billige Werbung missbraucht oder zensiert. Darauf haben viele Frauen keine Lust mehr – und das vollkommen zu recht.
Die Debatte darüber, ob sich Frauen im Sommer oben ohne sonnen dürfen, auf einer Parkbank ihr Baby stillen sollten oder es okay ist, eben keinen BH zu tragen, ist nicht neu. Umso schöner ist es, Frauen zu sehen, die Klarheit schaffen. Die wortlos sagen: Ja, ist es. Ja, ich nehme mir raus, was selbstverständlich sein sollte. Frauen, die die Initiative ergreifen und aktiv sind und mehr tun, als sich hinter Hashtags und Parolen zu verschanzen und auf Besserung zu hoffen.
No-Bra-Trend: Was, wenn junge Frauen gerade eine neue Realität schaffen?
Die Debatte der letzten Jahre, mit der sich unzählige Frauen, und auch Playboy, besonders auf Plattformen wie Instagram herumärgern mussten und müssen, ist eine besonders alberne. Sobald die weiblichen Brustwarzen vom Algorithmus und den menschlichen Sittenwächtern erkannt werden, droht die Löschung, die digitale Ausradierung. Eine Verwarnung gibt es obendrauf. Also werden Nippel weiterhin verpixelt, übermalt, überklebt und versteckt.
Was, wenn junge Frauen gerade eine neue Realität schaffen, indem sie oberkörperfrei baden gehen, leichte Shirts tragen, ohne ihre Brustwarzen in BHs zu verstecken. Kurz gesagt: Sich verhalten und kleiden wie wir Männer?
Doch zurück zu meiner Ausgangsfrage: Muss ich mich ertappt fühlen, weil ich den Anblick als Mann gut finde? Lange schon kämpfen Feministinnen gegen die Übersexualisierung des weiblichen Körpers. Muss ich mich also in Frage stellen, wenn ich den Anblick der BH-losen Frauen als angenehm, ja sogar attraktiv empfinde? Zur Klarstellung: Weder habe ich gezielt auf diese Frauen gestarrt, noch habe ich sie sonst irgendwie anders behandelt. Es ist mir nur einfach aufgefallen. So wie uns allen Merkmale unserer Mitmenschen auffallen, die wir eben als sympathisch, anziehend, sexy, vorteilhaft oder sonst wie bewerten.
No-Bra-Trend: „Es ist so viel bequemer“
Da ich mir meiner Privilegien bewusst bin, die ich als Mann in unserer Gesellschaft habe, musste ich der Sache weiter auf den Grund gehen. Wie das Thema wohl die Frauen in meinem Freundeskreis sehen würden? Wenig überraschend hatte jede von ihnen eine Meinung dazu, schließlich ist der BH alles andere als unumstritten. Mal wurden sie von Feministinnen verbrannt, ein andermal galten sie wegen ihrer unterstützenden Funktion als empowerndes Kleidungsstück. „Wie es um die Emanzipation der Frau bestellt ist, lässt sich am BH erkennen“, hieß es bei Spiegel Online gar vor rund drei Jahren.
„Ich sehe es nicht mehr ein, nur einen BH zu tragen, weil sich Männer irritiert durch meine Nippel fühlen. Mein persönliches Wohlbefinden ist mir wichtiger als die Meinung alter, konservativer Männer“, hörte ich von einer Freundin Anfang 20. Sie führte fort: „Das erste, was ich mache, wenn ich Zuhause bin? Den BH ausziehen. Es ist so viel bequemer, so viel gemütlicher. Das konsequent zu machen – auch wenn ich draußen bin – traue ich mich jedoch nicht. Mir sind die Blicke ab und zu echt unangenehm.“ Wieder stellte ich mein eigenes Denken in Frage. Habe ich manchmal vielleicht doch einen Moment zu lange hingesehen, wenn mir eine Frau attraktiv erschien?
Eine weitere Freundin, Anfang 30, musste ich erst gar nicht fragen, das Thema kam zufällig zur Sprache: „Ich verzichte im Sommer immer öfter auf den BH. Allein schon aus Faulheit!“ Ein neuer Aspekt, an den ich vorher gar nicht gedacht hatte. Und einen weiterer Faktor, den ich vorher schon im Hinterkopf hatte, erwähnte die dritte Befragte: „Ich freue mich für die Frauen, die dadurch eine neue Freiheit oder Erleichterung verspüren, wenn sie auf den BH verzichten. Für mich kommt es aber nicht in Frage, denn ich finde es mit viel angenehmer und bequemer.“ Denn die Frage ob mit oder ohne BH, meinte sie, werde nicht immer komplett frei entschieden. Sie ist vor allem auch eine Frage der Brustgröße, wie mir erklärt wurde, „ohne BH Sport machen, ist unmöglich für mich. Beim Joggen wäre das direkt schmerzhaft.“
No-Bra-Trend: „Warum habt ihr Angst vor Brüsten?“
Der BH ist also per se nicht als „Kleidungsstück der patriarchalischen Unterdrückung“ zu verstehen, wie es von mancher extremen Feministin zu hören und zu lesen ist. Er hat seine Berechtigung. Dass der Verzicht zu mehr taugt, als dazu, ein Sommerloch zu füllen, zeigt der Auftritt der britischen Schauspielerin Florence Pugh. Bei der Haute-Couture-Show von Valentino dieses Jahr trug sie ein durchsichtiges Kleid, das freien Blick auf ihre Brustwarzen zuließ. Es hagelte Kritik und hämische Kommentare. Und diese kamen laut Pugh vor allem von Männern. In einem langen Statement, das sie auf ihrem Instagram-Profil veröffentlichte, stellte sie die Frage: „Warum habt ihr Angst vor Brüsten?“
No-Bra-Trend: „Es ist meine Entscheidung“
Diese Empörungen auf die sichtbaren Brustwarzen zeigen, welche Reaktionen normale weibliche Körper im Jahr 2022 noch immer hervorrufen können. Umso wichtiger ist es, dass es viele mutige Frauen gibt, die sich so zeigen, wie sie sich zeigen möchten. Und mindestens genauso wichtig ist es, dass wir Männer das zulassen. Und dafür müssen wir ab sofort nicht blind und keusch durchs Leben gehen. Es reicht, einfach kein übergriffiger Arsch zu sein. Wir alle sollten uns anschauen, attraktiv finden, im Vorbeigehen in die Augen blicken oder uns eben einfach total egal finden. So banal, so wichtig. Und natürlich erwecken Brustwarzen unsere Aufmerksamkeit, genauso wie es ein schöner Hintern oder ein muskulöser Männerkörper eben macht. Dass wir es irgendwann als normal erachten, dass Frauen in die Öffentlichkeit gehen, wie sie wollen, das ist unser aller Aufgabe.
Eine weitere Freundin antwortete auf meine Frage schriftlich auf den No-Bra-Trend. Ihre Ansicht möchte ich hier als Schlusswort stehenlassen: „Mir fällt es auf, wenn andere Frauen keinen BH tragen. Und ich freue mich darüber. Weil der Look eine Metaebene hat: Unter teilweise hautengen Oberteilen keinen BH zu tragen, der die Brust in eine 0815-Form schiebt, legt nahe, dass die Frau eine Grundzufriedenheit mit sich und ihrem Körper hat. Oder dass sie auf dem Weg dorthin ist, an ihrem Selbstbewusstsein arbeitet. Sich aus einem Grund einfach dagegen entschieden hat, einen BH zu tragen. Ich kenne keine Frau, die keinen BH trägt, weil sie damit Männerblicke auf sich ziehen will oder 'extra sexy' sein möchte. Ich kenne ausschließlich Frauen, die keinen BH tragen, weil sie es einfach bequemer, angenehmer oder schöner finden. Ich selbst bin noch nicht so weit. Gehe ich ohne BH oder Bustier aus dem Haus, fühle ich mich, als würde ich in Jogginghose zum Businessdinner gehen. Irgendwie nicht richtig angezogen. Was ich aber absolut super finde: Ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich könnte es einfach jederzeit lassen. Und es wäre vollkommen okay. Was ich wie zeige oder nicht, ist nämlich meine Entscheidung. Und immer weniger die gesellschaftliche Konvention. Und wann ich mich dazu entscheide, liegt ganz allein bei mir. Auch das ist Freiheit.“
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