So eine Straße muss David Byrne im Kopf gehabt haben, als er für die Talking Heads seinen berühmten Titel „Road To Nowhere“ schrieb. Wie besagte Straße ins Nirgendwo schlängelt sich der Asphalt hier mitten durch den Tonto National Forest nordöstlich der US-Stadt Phoenix. Kakteen, so weit das Auge reicht, dazwischen kahle Felsen und hier und da ein paar grüne Wüstensträucher. Irgendwie rechnet man jederzeit damit, dass gleich ein paar Banditen auf Pferden aus der nächsten Böschung hervorschießen.
Und die wenigen Ortsschilder, die wir passieren, erinnern an Karl-May-Romane: Apache Junction, Gold Canyon oder Fountain Hills. Eigentlich der perfekte Ort für ein spektakuläres Sightseeing. Oder für Dummheiten. In jeder Hinsicht also wie gemacht, um das neue Cabrio von McLaren, den 720S Spider, auf seine Eigenschaften zu testen: Cruisen oder rasen – das ist hier die Frage. Wen sollte Letzteres schon stören? Der US-Bundesstaat Arizona, fast so groß wie Deutschland, aber nur von knapp sieben Millionen Menschen bewohnt, besteht aus unendlichen Weiten. Giftschlangen, Echsen und Spinnen sind vermutlich die einzigen Lebewesen im Umkreis von 100 Kilometern. Dass auch ein Sheriff in einem schwarzen Ford Explorer dazu zählt, werden wir erst später herausfinden.
Beim Öffnen der Scherentüren des in Aztec Gold gehaltenen Supersportlers packt einen gleich die Lust auf Grenzerfahrungen. Man fühlt sich wie Marty McFly aus „Zurück in die Zukunft“ – nur dass es im Innenraum statt Zeitschaltung und Fluxkompensator zwei Drehknöpfe in der Mittelkonsole gibt, mit denen man Federung, Fahrwerk und Getriebe einstellen kann. Bewegt man einen der beiden Schalter von „Comfort“ über „Sport“ auf die dritte Position „Track“ (Rennstrecke), klappt das Display hinterm Lenkrad filmreif um 90 Grad nach vorn. Was bleibt, ist eine knapp zwei Zentimeter schmale, streifenförmige Anzeige, die sich mit Drehzahlmesser, Geschwindigkeit und eingelegtem Gang auf das Wesentliche konzentriert. Doch wir lassen den Spider zunächst im Modus „Comfort“ und genießen erst einmal die Sonne, den Ausblick und den Fahrtwind.
Der Begriff Spider – der sich insbesondere bei Sportwagen als Synonym für die Bezeichnung Cabrio eingebürgert hat – wurde übrigens nicht, wie viele denken, von Alfa Romeo geprägt, sondern stammt aus der Welt der Pferdekutschen. Ein Spider (oder auch Spider Phaeton genannt) bezeichnete einst eine besonders sportliche und leichte Kutsche mit offener Karosserie. Das passt, hat McLaren es doch bei seinem neuen Cabrio geschafft, das Gesamtgewicht gegenüber der geschlossenen Variante um lediglich 49 Kilo auf insgesamt 1468 Kilo zu erhöhen. Auch bei den reinen Fahrwerten gibt es daher so gut wie keine Abstriche im Vergleich zum Coupé. Lediglich der Sprint auf 200 km/h hat sich durchs Zusatzgewicht um eine Hundertstelsekunde auf 7,9 Sekunden verschlechtert und der Sprint auf 300 km/h um eine ganze Sekunde. Aber ganz ehrlich: Wen es wirklich ärgert, dass er jetzt 22,4 statt 21,4 Sekunden bis Tempo 300 braucht, der hat ganz andere Probleme. Außerdem gibt es neben diesen alten Zahlen auch eine neue: elf Sekunden. Genau so lange braucht das Dach, um sich mithilfe acht kleiner Elektromotoren in den Ablagebereich hinter den Sitzen zu falten – was auch während der Fahrt bei einer Geschwindigkeit von maximal 50 km/h möglich ist.
Auf einer scheinbar verlassenen Geraden halten wir an, um die sogenannte Launch Control auszuprobieren: Wir stellen beide Drehknöpfe in der Mittelkonsole auf die Position „Track“, der McLaren befindet sich nun im Rennmodus. Jetzt treten wir mit dem linken Fuß die Bremse bis zum Anschlag durch, steigen mit dem rechten Fuß voll ins Gaspedal und lassen nach ein paar Sekunden mit einem Ruck das Bremspedal wieder los. Innerhalb von 2,9 Sekunden katapultiert uns der 4,0-Liter-BiTurbo-Motor auf 100 km/h. Ein Gefühl ähnlich jenem am höchsten Punkt einer Achterbahn: eine Mischung aus Freude, Angst und Euphorie. Im Körper kämpfen Endorphin und Adrenalin um die Wette. Rein theoretisch wäre bei 341 km/h Schluss. Aber der Respekt vor der Straßenverkehrsordnung und deren ausführenden Organen lässt uns den kleinen Spurt bei Tempo 180 beenden und das Fahrzeug auf vergleichsweise harmlose 130 km/h runterbremsen. Leider immer noch zu viel – denn keine Sekunde später befindet sich bereits ein Ford Explorer mit Sirene und Blaulicht im Rückspiegel.
„This is not a German Autobahn“, brummt mir der Sheriff zu, als er meinen deutschen Pass entgegennimmt. War ja klar. Gute 20 Meilen pro Stunde zu schnell, das macht umgerechnet etwa 250 Euro Bußgeld. Aber wir können von Glück reden. Noch ein paar Meilen schneller, und er hätte unser Fahrzeug konfisziert, im schlimmsten Fall wäre sogar eine Nacht im Gefängnis drin gewesen. Die modernen Wegelagerer sind eben nicht mehr Banditen auf Pferden, sondern Sheriffs im Explorer. Aber geschenkt. Wir hatten ja alles in allem einen tollen Tag. Und das ist den Ingenieuren aus Woking anzurechnen, die es geschafft haben, die extreme Dynamik des Coupés ohne große Streuverluste auf das Cabrio zu übertragen. Damit eignet sich der 720S Spider zum Heizen auf der Rennstrecke so gut wie zum Cruisen auf der Landstraße. Nur die Kombination aus beidem, also das Heizen auf der Landstraße, ist mit Vorsicht zu genießen, wenn man Schwierigkeiten mit den Behörden aus dem Weg gehen möchte.
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