Sex-Expertin: „Es ist nicht für jeden leicht, ein ,Sex-Gourmet‘ zu werden“

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Die Neurologin, Paar- und Sexualtherapeutin Dr. Heike Melzer beschreibt in ihrem Buch "Die neue sexuelle Revolution": Die ist viel weitreichender als die von 1968 – und für manchen sogar gefährlich. Vor allem für die Monogamie.

In ihrer Praxis bringt Heike Melzer Menschen zum Sprechen. Über Vorlieben, Begierden – und wie sie ausgelebt werden. Nur bei einem Thema erntet sie immer öfter Schweigen: wenn sie nach Orgasmen fragt, die Patienten ohne festen Partner erleben. Ein Zeichen einer neuen Zeit . . .

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer neuen sexuellen Revolution. Was unterscheidet diese Revolution von jener der 1960er-Jahre?

Sexualität hat drei Dimensionen: die Fortpflanzung, die Liebe und die Triebe. Damals wurde die Fortpflanzung von der Sexualität getrennt durch die Einführung der Pille und die Straffreiheit der Abtreibung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus ein bisschen Spaß ein Kind entwickelte, war plötzlich um ein Vielfaches geringer, und das wurde gefeiert – Stichwort freie Liebe. Heute ist die Fortpflanzung eine fast planbare Größe.

Und was zeichnet die heutige Revolution aus?

Dass jetzt die Triebe im Mittelpunkt stehen: Wir können uns völlig autonom, ohne Partner oder mit wechselnden Partnern der Sexualität bedienen. Die klassische Partnerschaft, die Liebesbeziehung, ist nur noch eine von vielen Optionen, um Spaß zu haben.

"Scharfstellung: Die neue sexuelle Revolution" (Klett-Cotta / Tropen), 16,95 Euro, erschien im vergangen August. Darin beschreibt die Paar- und Sexualtherapie Dr. Heike Melzer, wie Sex in unserer Zeit "digital beschleunigt" wird und was diese neuerungen m
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Hatte es die klassische Beziehung nicht schon immer schwer?

Ja, nur haben wir heute ganz andere Möglichkeiten. Das Smartphone versorgt uns, wenn wir wollen, jederzeit mit kostenlosen Pornos. All die neuen Technologien haben in den letzten zehn Jahren den Weg in unseren Alltag gefunden. Es gibt Casual-Dating-Plattformen, Avatare in VR-Brillen, interaktive Toys, und natürlich wurde auch der Zugang zur Prostitution durch das Internet leichter. Mit all diesen Dingen konkurriert der Mensch als Sexpartner. Sogar Selbstbefriedigung verlangt immer weniger den Menschen, seine Fantasie oder seine Hände. Dafür gibt es immer mehr Superstimuli. Ich halte die Umwälzungen heute für größer als die der 1960er-Jahre.

Was sind Superstimuli?

Das sind die Pornografie in ihren technischen neuen Nutzungsformen sowie Sex-Toys – Dinge also, die unser Leben als Genussmittel durchaus bereichern können. Aber für viele werden sie zur Allzweckwaffe. Wir kennen das aus der Ernährung: Früher gab es Brot, Wasser, Äpfel und Kartoffeln. Heute gibt es Fertiggerichte, Sour-Cream-Chips, Energydrinks und was weiß ich noch. Diese Dinge sind so geschickt zusammengesetzt, dass wir schnell danach süchtig werden können. Fettleibigkeit oder Diabetes sind häufig die Folge.

Und was ist die Gefahr der sexuellen Superstimuli?

Dass man sie nicht bereichernd nutzt und genießt, sondern sie zum Maßstab werden, weil sie neue Maßstäbe setzen. Versuchen Sie nur mal, mit der Frequenz eines modernen Vibrators mitzuhalten. Dagegen haben Sie weder mit dem Penis noch mit Zunge oder Finger eine Chance. Auf der anderen Seite kann zum Beispiel eine einzelne Frau niemals mit der Vielfalt von Pornoinhalten mithalten. Für viele Menschen ist der Überfluss überwältigend.

Und das bedeutet?

So wie die moderne Lebensmittelindustrie durch die überhöhte Energiezufuhr Störungen, etwa die Esssucht, mitverursacht, so gibt es heute eben auch die Sex- oder Pornosucht. Es ist nicht für jeden leicht, ein „Sex-Gourmet“ statt ein „Sexoholic“ zu werden. Wenn Sie eine geringe Selbstkontrolle haben, sind Sie da enorm anfällig. Die Impulskontrollstörung hat durch Computer und Smartphones bereits deutlich zugenommen, bei Kindern wie Erwachsenen. Und die Leute kommen heute mit ganz anderen Problemen zum Sexualtherapeuten als noch vor zehn Jahren.

Was sind die neuen Sex-Probleme?

Nehmen Sie die Potenzstörungen: Die betrafen größtenteils ältere Männer. Plötzlich haben immer mehr junge Männer dieses Problem. Weil sie mit einem Überangebot an Porno-Performern und Sex-Toys konkurrieren. Oder die klassische Affäre: Die gab es zwar schon immer, aber nie so massenhaft wie heute. Außerdem beschweren sich mehr und mehr Paare über mangelnde Lust. Das ist mittlerweile fast mein Hauptthema. Dabei mangelt es gar nicht an Lust. Nur werden die Triebe oft völlig autonom befriedigt und nicht mehr zwischen Frau und Mann in einer Beziehung.

Und was ist das Gute an der heutigen sexuellen Revolution?

Ich bin überzeugt davon, dass viele Menschen die neuen Möglichkeiten sinnig verwenden und davon profitieren. Wir werden immer offener und aufgeklärter. Die Kehrseite wiederum ist: Heute können schon Neunjährige im Netz herausfinden, was ein „Gangbang“ ist. Es wird spannend sein zu sehen, was dieser Überfluss an Information und Reizen mit unseren Gehirnen und Partnerschaften in Zukunft macht.

Trotzdem wird weiter geheiratet, und das Ideal der monogamen Beziehung gelebt – oder wird sie aussterben?

Die Monogamie, dieses romantische Liebesideal, steht schon immer auf wackligen Beinen. Ich glaube auch nicht, dass wir Menschen monogam sind. In der Aufzucht von Kindern stehen wir aber als halbwegs monogame Paare besser da, das zeigen soziologische Studien.

"Die Monogamie steht schon immer auf wackligen Beinen." - Dr. Heike Melzer begleitet seit über 25 Jahren Klienten als Paar- und Sexualtherapeutin. Die Erfahrungen und Beobachtungen, die sie über die Jahre in ihrer Münchner Praxis sammeln konnte, hat sie i
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Was ist Ihr Vorschlag?

Die Monogamie hat sicher zu bestimmten Lebensabschnitten eine Berechtigung. Im Normalfall möchte man das mit den eigenen Kindern ja zwischen 30 und 50 irgendwie gut hinbekommen. Und danach, wenn die Kinder aus dem Haus sind, probieren sich jetzt viele gern neu aus. Gerade als Frau hat man auch im gehobenen Alter keine Schwierigkeit, einen Partner für Sex zu finden.

Und als Mann?

Als Mann steht man heute größeren sexuellen Erwartungen gegenüber. Die Frauen sind unabhängiger geworden und bedienen sich der technischen Möglichkeiten leichter – zum Beispiel der Toys. Pornos und ständig verfügbare sexuelle Reize erhöhen den Performancedruck, während man gleichzeitig natürlichen sexuellen Reizen gegenüber abstumpft. Die Schere zwischen „Wollen“ und „Können“ geht immer weiter auseinander. Die Realität ist im Normalfall kein Porno.