Noch nie waren wir im Ausleben unserer Sexualität so frei wie jetzt: Jeder darf mit jedem. Und zwar alles. Immer. Niemand verlangt ernstlich von einer Frau, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Keuschheitsgürtel kommen allerhöchstens noch als erotisches Spielzeug zum Einsatz. Und wenn der Typ Blasen super, aber Lecken doof findet, kann er sich bald ’ne andere suchen. Es gilt: gleiches Recht für alle.
Zumindest auf dem Papier. Da sind wir alle schrecklich aufgeklärt und fortschrittlich und egalitär. Doch unsere Köpfe, die stecken kollektiv im finstersten Mittelalter fest. Sonst würden Geschichten von einer Frau, die gern mit anderen experimentiert, nichts als müdes Gähnen provozieren. Stattdessen wird ihr im besten Fall moralische Verkommenheit attestiert. Und im schlimmsten ein psychisches Problem.
„Wir können unten rum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind“
Margarete Stokowski fasst das in ihrem Buch „Untenrum frei“ ganz gut zusammen: „Wir können unten rum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind.“ Und obenrum, im Kopf, da muss noch eine ganze Menge passieren: Noch immer geben Frauen in Umfragen deutlich weniger Sexpartner an als Männer. Untertreiben die Frauen, oder übertreiben die Männer? Vermutlich beides, und zwar aus guten Gründen.
Was die Frauen angeht, so hat man Folgendes heraus gefunden: Hängt man sie bei der Befragung für die Wissenschaft an einen (vermeintlichen) Lügendetektor, stehen ruckzuck mehr Sexpartner auf der Strichliste. Was das über uns Frauen aussagt? Wir wissen, welche Antwort die sozial erwünschte ist. Und die lautet nicht: „Ich hab’s mit der gesamten Fußballmannschaft getrieben, und ja, es hat Spaß gemacht!“
Also geben wir uns weniger umtriebig, als wir sind. Weil wir wissen, was das für unseren persönlichen Status bedeutet: Je weniger Kerle eine Frau an sich ranlässt, desto mehr ist sie wert.
„Wenn du einen Schlüssel hast, der in jedes Schloss passt, hast du den Master-Key. Wenn du aber ein Schloss hast, in das jeder Schlüssel passt, hast du einfach nur ein billiges Schloss“, lautet eine viel zitierte Volksweisheit.
Aufwerten auf der einen Seite, abwerten auf der anderen
Riechen Sie ihn auch, den widerwärtigen Gestank der Doppelmoral? Aufwerten auf der einen Seite, abwerten auf der anderen. Ein klassischer Fall von Slut-Shaming übrigens, dem Herabwürdigen von tatsächlich oder auch nur vermeintlich sexuell aktiven Frauen.
In unserem Alltag ist das allgegenwärtig, ob nun als ständige Sorge um unser Renommee oder als Bashing durch unsere Geschlechtsgenossinnen. Da bleibt kein zu kurzes Röckchen unbemerkt und -kommentiert. Schließlich explodiert unser eigener Wert, wenn wir eine andere runtermachen.
Ja, auch wir Frauen hängen da knietief mit drin. Schließlich haben wir gelernt, was uns weiterbringt.
(Übrigens: Mehr Streitschriften finden Sie hier!)
Von Doppelmoral und falschen Helden
Der Typ mit dem Master-Key hingegen wird zum Helden stilisiert. Anerkennend schaut man zu ihm auf und wünscht sich, seine Quote wäre die eigene. Denn was ist schon ein Mann ohne Sex? Ein nichtswürdiger Versager.
Aber schauen wir uns unser kollektives Narrativ über die Sexualität der Geschlechter doch mal genauer an: Männer dürfen (und sollen) immer wollen. Dazu sind sie evolutionsbiologisch schon fast gezwungen, schließlich will die Natur, dass sie ihren Saft so weiträumig wie möglich verspritzen.
Frauen dürfen grundsätzlich auch wollen (da wollen wir mal nicht so sein). Aber bitte schön nur in einer festen Beziehung. Weil sie von Natur aus liebes- und schutzbedürftig sind und überhaupt viel seltener vögeln wollen als Kerle.
Frauen verlieren mit der Zeit ihre Lust am eigenen Langzeitpartner
Meine Herren, ich muss Sie enttäuschen. Wir Frauen haben wesentlich mehr Lust, als Sie glauben. Möglicherweise haben wir sogar mehr Lust als Sie. Und nicht nur auf Sie allein.
Nein, das sind nicht nur die subjektiven Beobachtungen von einer, die es selbst offensichtlich sehr, sehr nötig hat. Sondern Forschungsergebnisse, die Daniel Bergner in seinem heiß diskutierten Bestseller „Die versteckte Lust der Frauen“ zusammenfasst.
Seine steile These: Frauen sind nicht nur „sexuelle Allesfresser“, sie verlieren auch innerhalb weniger Jahre die Lust an ihrem Langzeitpartner. Für Monogamie sind sie einfach nicht geschaffen, aber sie bleiben ihr aufgrund ihrer gesellschaftlichen Prägung – treu.
Das Witzige daran: Die wenigsten Frauen würden das von sich selbst behaupten. Weil sie es sich nicht zugestehen. Sich vielleicht nicht einmal bewusst machen. In Gesellschaften ohne solch eine Doppelmoral wie in unseren Breitengraden, so Bergner, gehen die Frauen ihrer Lust mindestens genau so offensiv nach wie Männer. Mindestens.
"Früher wurde man auf dem Scheiterhaufen verbrannt, heute ist man halt billig"
Sieht also ganz so aus, als wären Frauen das lustvollere Geschlecht und als könnten wir alle mehr Sex haben, gäbe es da nicht diese lästigen Doppelstandards.
Ich will Ihnen jetzt nicht die Jahrtausende währende Unterdrückung durch das Patriarchat unter die Nase reiben. Okay, irgendwie will ich’s doch. Aber vor diesem Hintergrund scheint es fast schon plausibel, dass solche hungrigen Allesfresser von Master-Key-Besitzern und denen, die es gern wären, domestiziert werden mussten.
Ist ja auch gruselig: können immer, kommen mehrfach, wollen mit allen. Und dann muss man am Ende das Balg des Nachbarn aufziehen. Nee, das soll sie mal schön sein lassen, die billige Schlampe. Zugegeben, wir sind auch schon weit gekommen in dieser Hinsicht: Früher wurde man auf dem Scheiterhaufen verbrannt, heute ist man halt billig. Ist schon nicht mehr ganz so schlimm.
"Wir alle haben gern unseren Spaß. Und wir haben ihn gern zusammen"
Halten wir fest: Wir alle haben gern unseren Spaß. Und wir haben ihn gern zusammen. Was wäre die Welt also ohne Frauen, die ihrem Trieb folgen? Die Sex genießen und sich dafür nicht schämen? Ich gebe Ihnen die Antwort: Die Welt wäre ein verdammt trauriger Ort (und heiße Orgien könnten Sie sich auch abschminken).
Statt Frauen also für ihr sexuelles Selbstbewusstsein zu bestrafen, sollten wir es feiern. Denn das ist das Beste, was uns allen passieren kann – und insgeheim wissen Sie das auch.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das hier ist kein Plädoyer für Gruppenaction und Promiskuität (höchstens ein klitzekleines bisschen). Das hier ist ein Loblied auf die Lust. Weil wir es alle verdienen, sie auszuleben. Wie auch immer das aussieht, ganz unabhängig davon, welchem Geschlecht wir angehören. Wir alle verdienen es, dafür nicht bewertet zu werden.
Stempel wie "Hengst" oder "Schlampe" sind sexistischer Bullshit!
Nennen wir es beim Namen: Stempel wie „Hengst“ und „Schlampe“ sind sexistischer Bullshit. Und gehören ein für alle Mal abgeschafft. Nur so kann Freiheit – unten wie oben – wirklich funktionieren.
Ich weiß, gesellschaftliche Prozesse sind manchmal eine quälend langsame Angelegenheit. Aber wir können einen Anfang machen, indem wir diese Label wenigstens umdeuten.
Man mag von Jennifer Rostock halten, was man möchte. Aber mit ihrer gekonnten Stilisierung als „Hengstin“ ebnet sie allen willigen „Schlamperichen“ den Weg.
Also los, die Zeit ist reif!
Illustration: Michael Pleesz
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