Von Katja Lewina
„Und das sollen all die Menschen da draußen über dich wissen?“ Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft mir diese Frage schon gestellt wurde. Wenn ich über Sex schreibe, lasse ich konsequent die Hosen runter. Woran ich denke, wenn ich es mir selber mache, was ich von Treue halte und welche Flüssigkeiten meine Vulva absondert, führe ich zwar meist nur zur Illustration des jeweiligen Sujets aus. Aber Tatsache bleibt: Ich gebe Dinge von mir preis, über die andere ums Verrecken nicht sprechen würden. Öffentlich schon gar nicht. Und vielleicht noch nicht einmal mit dem eigenen Partner.
Seit ich vor wenigen Jahren mit dieser Art der Selbstentblößung angefangen habe, sind viele Tabus gefallen: Frauen sprachen über sexualisierte Übergriffe. Der Bundestag senkte die sogenannte Tamponsteuer. Und selbst renommierte Medien berichteten so selbstverständlich darüber, als hätten sie solcherlei Themen nie zuvor als unwichtigen Schmuddelkram abgetan. Dass über Sexualität auch öffentlich gesprochen werden muss, darüber sind sich inzwischen die meisten von uns einig. Schließlich lassen sich strukturelle Ungerechtigkeiten nur so auflösen. Haben Sie vor #MeToo geahnt, wie verbreitet sexuelle Grenzüberschreitungen gegenüber Frauen sind? Oder sich vor der Petition zur Senkung der Mehrwertsteuer auf Menstruationsprodukte darüber Gedanken gemacht, inwieweit die Besteuerung gerechtfertigt ist? Nein? Ich übrigens auch nicht.
Sich aber ohne Not vor aller Welt nackig machen? Gibt man sich da nicht der Lächerlichkeit preis? Privatsphäre gilt als wichtiger Schutzraum für die verletzliche Persönlichkeit. Selbst Paartherapeuten raten ihren Klienten mitunter, sich gegenseitig bloß nicht alles zu verraten! Die Affäre mit der Kollegin letztes Jahr, die sollte zum Beispiel unterm Teppich bleiben. Eben- so die Vorliebe für Bukkake-Pornos, Gruppensex-Fantasien oder diese unerklärliche Sehnsucht danach, mal so richtig schön ausgepeitscht zu werden. Kurz: Alles, was den Partner irgendwie verstören und damit die Beziehung gefährden könnte, bleibt besser ungesagt.
Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Oder auch nicht. Bestes Beispiel sind mein Mann und ich. Als er vor ein paar Jahren eine hinreißende Sängerin kennenlernte, hielt er es für eine prima Idee, ihre gemeinsamen Hotelnächte für sich zu behalten. Bis sein Hang zu außerehelichen Eskapaden aufflog – und ich mir in einer dramatischen Aktion den Ehering vom Finger riss. Nicht, weil er Bock auf eine andere gehabt hatte (das konnte ich sogar noch irgendwie verstehen). Sondern wegen all der Lügen, die er mir deswegen auftischen musste. Warum nur hatte dieser Feigling nichts gesagt? Weil er ganz genau wie obige Paartherapeuten dachte. Nachdem uns ihre blödsinnigen Ratschläge also beinahe in eine Scheidung hineinmanövriert hatten, drehten wir die Nummer einfach um. Und fingen an zu erzählen.
„Meine Liebste fände mich abartig, wenn sie all das über mich wüsste“
Ein halbes Jahr später erlaubten wir uns nicht nur Dates und Affären mit anderen. Wir hatten uns in dieser Zeit auch besser kennengelernt, als wir uns vorher je die Chance dazu gegeben hätten. Denn – Fun Fact – auch ich hatte mit einer Menge hinterm Berg gehalten. Und da wäre es auch immer geblieben, wäre nicht diese hinreißende Sängerin in unser Leben getreten. Ich hätte mir nicht einmal den Gedanken erlaubt, mir etwas anderes als die allseits gepriesene monogame Beziehung auf Lebenszeit vorzustellen. Ausreden à la „Meine Liebste fände mich abartig, wenn sie all das über mich wüsste“ ziehen also nicht. Ich finde, jeder von uns hat die faire Chance verdient, mit einem echten Menschen zusammen zu sein. Und nicht mit seiner Fassade. Gehen kann man ja immer noch. Was man – zumindest innerlich – eh tun wird, sobald man von selbst hinter die Abartigkeiten des anderen kommt.
Wenn ich heute Männer kennenlerne, dann kommt es durchaus vor, dass sie sich bei manchen Themen am liebsten die Ohren zuhalten und laut „Schalalalala“ singen. „Halt, sag es nicht!“, rief mal einer, als unser Gespräch auf die Quantität vergangener Sexpartner kam. Nicht, dass ich nicht ohnehin irgendwann den Überblick verloren hätte. Am Ende spielte es für mich sowieso keine Rolle, ob es 10 oder 100 waren. Für ihn hingegen, so sagte er, „wäre das ein echter Abtörner, wenn du mit mehr Typen geschlafen hättest als ich mit Frauen“. Einen anderen überkam bei der Erwähnung meiner monatlichen Blutung, eines ganz normalen körperlichen Vorgangs übrigens, ein merkwürdiger Fluchtinstinkt. „Zu viele Informationen“, sagte er und vertagte unser Date. Die meisten solcher „Will ich nicht wissen“-Kandidaten entlarven sich auf diese Weise selbst als Chauvis. Oder als verklemmt. Oder halt als beides. Das beschleunigt dann zwar den Selektionsprozess, ist aber irgendwie auch ein bisschen schade für die Typen.
"Stellen Sie sich nur mal vor, es gäbe eine Welt, in der Sie über die Affäre mit der Kollegin reden könnten."
Wenn wir in unserer Sexualität wirklich frei sein wollen, kann es ein Zuviel an Information überhaupt nicht geben. Je mehr wir von uns preisgeben und je mehr wir übereinander wissen, desto weniger haben Tabus noch eine Chance. Und wie die funktionieren, wissen wir alle: Sie schränken uns ein. Lassen uns hoffen, dass die anderen uns nicht erkennen, enttarnen, bloßstellen. Stellen Sie sich nur mal vor, es gäbe eine Welt, in der Sie über die Affäre mit der Kollegin reden könnten. Oder über ihre Porno-Vorlieben. Oder Ihre BDSM-Fantasien. Und ich meine: nicht nur mit ihrer Liebsten. Sondern auch mit weniger vertrauten Personen – ihrem Chef zum Beispiel. Ihr Herz würde nicht mehr in die Hose rutschen, wenn in einer Spam- Mail mal wieder ein afrikanischer Prinz behauptet, er habe Sie beim Wichsen gefilmt. Sie müssten Ihre Viagra nicht mehr heimlich schlucken, weil inzwischen alle wüssten, dass ein Schwanz keine Maschine ist. Und niemand würde Ihnen einen Vorwurf machen, dass Sie auf fremde Hintern starren. Weil jeder von uns das nun mal hin und wieder tut.
Ich weiß, so weit sind wir noch lange nicht. Aber ich arbeite daran. Letztens habe ich sogar meinem Vater ein Vorabexemplar meines Buches „Sie hat Bock“ in die Hand gedrückt. Einen Text, für den die Bezeichnung „explizit“ noch maßlos untertrieben ist. Sollte er das alles wirklich wissen? Wenn er es will: Fuck, yes! Ich bin nicht mehr bereit, irgendetwas im Namen der Scham zurückzuhalten. Meinetwegen kann mir die ganze Welt zwischen die Beine gucken. Ich bin mir sicher, es wird ihr guttun. Und für mich springt dabei ja auch was raus: Ich habe nichts, aber auch gar nicht mehr zu verlieren. Was im Übrigen das beste Lebensgefühl ist, das ich je hatte.
Falls Ihnen die Nummer mit der ganzen Welt dann doch ein bisschen viel sein sollte, versuchen Sie es mal im Kleinen. Sprechen Sie offen mit Ihrer Liebsten, egal, ob Sie Ihr Bett für immer teilen oder nur für eine Nacht. Hauen Sie Ihre Unsicherheiten auf den Tisch. Ihre Kinks. Ihr Wollen. Ich verspreche Ihnen: Das wird sich besser anfühlen als jede Performance, die Sie jemals ab- geliefert haben. Für alles, was danach geschieht, über- nehme ich allerdings keine Garantie. Denn wenn Sie einmal das Blut der Freiheit geleckt haben, können Sie unter Umständen eines nicht mehr: damit aufhören.
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