Kennen Sie das auch? In letzter Zeit wird es immer schwieriger, ein Abendessen für Freunde oder Verwandte auszurichten. Schon bei der Einladung bekommt man als Gastgeber diverse Einschränkungen mitgeteilt. „Also, ich esse jetzt keine Milchprodukte mehr“, sagte mir neulich eine langjährige Freundin, sie vertrage das einfach nicht mehr. Beim Arzt war sie deswegen nicht, sie vertraue da auf ihre Intuition, auf die Weisheit ihres Körpers. Ein anderer Freund hatte mir schon vor längerer Zeit mitgeteilt, dass er seit Kurzem Veganer sei und darum lieber erst nach dem Essen auf einen Wein kommen würde, falls es keine veganen Speisen geben sollte.
Ein Essen mit Freunden - nicht mehr so leicht
Die gab es. Den Wein brachte er jedoch lieber selbst mit, denn: „Wusstest du? Weine werden teilweise mit Hühnereiweiß geklärt.“ Und so geht es weiter: Ein anderer will abends Low Carb essen, also bitte keine Kartoffeln, Nudeln oder so etwas Frevelhaftes wie Pizza! Die Freundin macht Intervallfasten und hat leider immer abends ihre Hungerphase. Alle lehnen obendrein „Industriezucker“ auch in kleinsten Mengen ab, oft auch Kaffee und Alkohol. Fazit: Milch, Kohlenhydrate, Gluten oder Zucker – alles ist Teufelszeug! Und wenn man dann doch in langwieriger Kleinarbeit ein Menü erdacht hat, sind die einzigen Themen beim Essen: Unverträglichkeiten mit all ihren Symptomen, welches Restaurant streng glutenfrei kocht, welches Eiweißbrot am besten schmeckt und wie das nun mit dem Ölziehen geht – natürlich mit nativem Kokosöl, anstatt des ursprünglich von indischen Ärzten verwendeten Sesamöls.
Alles ist Teufelszeug!
Bei einem dieser Abendessen musste ich an einen Tweet denken, den ich vor ein paar Jahren mal gelesen hatte: „Wann genau ist aus ‚Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll‘ eigentlich ‚Laktoseintoleranz, Veganismus & Helene Fischer‘ geworden?“ Früher ging es am Tisch um Beziehungsgeschichten, um die neuesten Bands und Konzerte oder um Politik. Heute gibt es anscheinend nur noch ein Themenfeld: Einkaufen, Kochen und das eigene Wohlbefinden. Das zeigen auch Studien: Essen nimmt im Leben vieler Menschen einen immer größeren Stellenwert ein – ob vegan, Low Carb, Steinzeitdiät (Paleo), Clean Eating, biologisch- dynamisch, anthroposophisch, glutenfrei, laktosefrei, zuckerfrei, makrobiotisch oder Ayurveda. Jede dieser Kostformen beansprucht natürlich für sich, die allergesündeste zu sein.
Das könnte man einfach belächeln oder sogar gut finden, wäre da nicht der Missionierungseifer einiger Essjünger. Wer es wagt, in ihrer Gegenwart Fleisch, Käse oder Zuckergebäck zu essen, setzt sich ihrer Verachtung aus. Wer sich traut, gegen die teils ziemlich abstrusen Thesen zu argumentieren, wird der Gotteslästerung verdächtigt – oder zumindest der Kooperation mit der Pharma-Industrie, denn die profitiere ja davon, wenn wir uns krank futtern. Gespräche mit solchen Tischgenossen werden schnell aggressiv, sie spalten in Gläubige und Ketzer. Solcher „Foodamentalismus“ widerspricht fundamental der Funktion, die das Mahl seit Menschengedenken innehat: Gemeinschaft und Harmonie stiften.
Ernährung wird zur Ersatzreligion
Stattdessen wird die Ernährung zur Glaubensfrage überhöht, wie Psychologen, Sozialwissenschaftler und Theologen beobachten – auch weil in den westlichen Ländern der Glaube an traditionelle religiöse Institutionen schwindet. Diese gaben früher selbst Ernährungsregeln vor: Katholiken aßen freitags Fisch und fasteten zwischen Aschermittwoch und Karfreitag, Juden aßen koscher und Moslems halal. Vieles davon wird heute nicht mehr praktiziert, dennoch bleibt das Essen moralisch aufgeladen. Es ist nun die Ernährung selbst, die sinnstiftend wirkt, der „theologische“ Überbau wird erdacht von selbst ernannten Ernährungsspezialisten (Promis, Foodbloggern und abtrünnigen Ärzten) oder Philosophen. Die Gurus heißen William Davis (glutenfrei), Attila Hildmann (vegan), Ella Woodward (Clean Eating) oder Nico Richter (Steinzeitkost).
Diese Hohepriester der alternativen Ernährung nutzen die Heilserwartungen ihrer Jünger aus. Versprechen die christlichen Religionen Erlösung nach dem Tod, können säkularisierte Gesellschaften nur noch im Diesseits Erlösung finden – in einem moralisch guten Leben. Und moralisch gute Ziele sind dem Zeitgeist nach: Gesundheit, Schlankheit, Fitness und Nachhaltigkeit. Die selbst ernannten Ernährungsexperten liefern dazu ein vermeintlich stringentes Regelsystem, das zu erfüllen vielen Menschen offenbar einfacher fällt als das schwer greifbare Mantra, „die Ernährung sollte abwechslungsreich sein“ – eine Devise, die übrigens schon in der Antike galt. Die kulinarische Ersatzreligion wird durch Unwissen bedingt, da der moderne Mensch zunehmend von der Lebensmittelproduktion abgekoppelt lebt.
Hiobsbotschaften aus der Agrarindustrie
Fast niemand kann mehr Risiken aus der Nahrung einschätzen, stattdessen sehen viele nur noch Gifte überall. Ob der vielen Hiobsbotschaften aus der Agrarindustrie vergessen wir aber, dass unsere Ernährung heute so sicher ist wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Wir leben obendrein länger als alle Generationen vor uns, viele Krankheiten sind ausgerottet, nur noch der Tod steht uns eines Tages bevor. Deshalb versuchen wir alles, ihm von der Schippe zu springen: Vergiftungsfantasien werden auf vollkommen harmlose Substanzen wie Gluten oder Laktose übertragen. Wer aber Angst vor dem Essen hat, wird dank selbsterfüllender Prophezeiung tatsächlich von Symptomen wie Bauchweh oder Übelkeit geplagt. Er kann nicht mehr genießen. Ein trauriges Leben.
Eine von Spiegel Online beauftragte Studie ergab, dass bis zu 23 Prozent der Deutschen glauben, Weizen oder Milch nicht zu vertragen oder an einer Lebensmittelallergie zu leiden. Wissenschaftlich gesehen, ist das blanker Unsinn. Zwar gibt es natürlich Menschen, die medizinisch belegte Lebensmittelallergien haben und deshalb streng auf alle Inhaltsstoffe achten müssen. Doch die Menge derjenigen, die wirklich von einem Arzt diagnostizierte Leiden haben, liegt weit unter der Zahl derer, die darüber klagen. Von Lebensmittelallergien sind lediglich rund fünf Prozent der Deutschen betroffen. Von Zöliakie, bei der man kein Gramm Mehl essen darf, spricht man bei rund 0,3 Prozent der Bevölkerung. Und nur rund fünf bis zehn Prozent der Deutschen haben einen so ausgeprägten Laktasemangel, dass nach dem Genuss eines Glases Milch Übelkeit und Durchfall auftreten.
So sicher sind Slebstdiagnosen
Ob es eine Glutenunverträglichkeit als eigenes Krankheitsbild gibt, ist in der Wissenschaft umstritten. Selbst diejenigen Wissenschaftler, die sie für real halten, schätzen die Krankheitszahlen nur auf ein bis anderthalb Prozent. Viele der heute festgestellten Unverträglichkeiten sind also Selbstdiagnosen – die gerade in der jungen Mittelschicht gehäuft anzutreffen sind.
Was also machen, wenn Sie es mit intoleranten Foodamentalisten zu tun haben? Sich nicht entmutigen lassen! Freunde immer wieder einladen, auch wenn sie seltsam essen. Sich zu einem orientalischen Büfett treffen, bei dem jeder auf seine Kosten kommt. Da das Genießen erwiesenermaßen gesünder ist als akribisches Kalorienzählen, kann man nur hoffen, dass die Gesundesser irgendwann wieder zum Genuss zurückfinden.
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