Jane, Sie haben im vergangenen Jahr bereits eine Reihe von Konzerten in Frankreich gespielt. Freuen Sie sich darauf, bald endlich auch wieder Ihre deutschen Fans zu beehren?
Oh ja, sehr sogar. Ich liebe es, auf der Bühne zu sein. Das sind für mich anderthalb Stunden voller Spaß. Selbst wenn du vorher vielleicht manchmal denkst: „Ach nee, ich bin ja doch ganz schön müde“, dann hörst du hinter der Bühne das Gemurmel der Leute, die Band schlägt die ersten Töne von „Je t’aime … moi non plus“ an (das berühmte Orgasmus-Duett, das Serge Gainsbourg erst mit seiner Ex Brigitte Bardot aufnahm und 1969 schließlich mit Jane Birkin veröffentlichte, d. Red.), und dann stellt sich die Freude ein. Wenn die Leute Songs wie diesen hören, erinnern sie sich daran, wie es war, als sie jung waren. Den Gedanken finde ich ziemlich süß. Eines der Lieder zum Beispiel, „Di doo dah“, hat Serge für mich geschrieben, als ich Anfang 20 war. Und die Leute springen auf und denken: „Ach, was war das schön damals, als ich selbst Anfang 20 war.“
Denken Sie beim Singen denn auch an die junge Jane Birkin zurück?
Ja, aber ich denke dann an keine sonderlich coole oder begehrenswerte Person. Ich denke an das Mädchen, das nicht an sich glaubte. Ich war die junge Frau, die aussah wie ihr Vater, die keinen Busen hatte und nicht auf den Gedanken kam, irgendjemand würde sie anschauen oder interessant finden. Ich war davon überzeugt, dass alle anderen hübsch waren, aber nicht ich. Und so stelle ich mir vor, wie ein junges Mädchen im Publikum sitzt, das sich auch einsam, hässlich, busenlos, verloren und ungeliebt fühlt. Und das sich vielleicht weniger allein vorkommt, wenn es mir zuhört.
Genießen Sie die Rückschau auf Ihre frühen Jahre nicht auch? Na ja, die Rückschau kann recht schmerzhaft sein. Aber sie erfüllt mich auch mit Dankbarkeit, vor allem wenn ich an Serge denke.
Denken Sie viel an Serge? Jeden Tag. Ich denke an die vielen, vielen Songs, die er für mich geschrieben hat, an all die kleinen persönlichen Botschaften, die er darin untergebracht hat. Das war seine Art, mir nahe zu sein, selbst dann noch, als ich ihn verlassen hatte. Mir fällt keine andere Person ein, die mit einem Songwriter zusammen war, der auch nach der Trennung bis zu seinem Tod noch für sie geschrieben hat. Hat Kurt Weill das für Lotte Lenya getan so wie Serge für mich? Es ist so einzigartig! Einige seiner besten Songs gab er mir nach unserer Trennung. In einem Stück wie „Fuir le bonheur“ hat er seinen Schmerz darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich gegangen war. Psychologisch ist das seltsam.
Haben sein gebrochenes Herz und seine Liebe seine Kunst vielleicht noch verbessert?
Ja, das glaube ich. Den Song „Quoi“ hat er für mich gemacht, als ich in Italien an einer TV-Serie arbeitete. Ich sollte ein Lied singen, das eine gute Melodie hatte, aber mir nicht besonders gefiel. Also schickte ich ihm das Original, und er machte „Quoi“ daraus. Das war ganz schön frech von mir: anzunehmen, er würde extra für mich diese französische Version
schreiben. Aber er tat es und fügte einen herzzerreißenden, schwer zu singenden Text hinzu. Ich rief ihn später an, als die Aufnahme fertig war, und fragte ihn, ob ich okay gesungen hätte. Ich konnte nicht verstehen, was er antwortete, denn er weinte wie ein Schlosshund. Wenn ich heute also den Song „Quoi“ singe, denke ich an Serge und seine Güte mir gegenüber. Und ich sehe Paare im Publikum, die sich festhalten und sich küssen – sichergehend, dass ihnen so eine Trennung wie uns nie passieren möge. Das alles ist magisch und auch traurig.
„Heute kriegst du schnell Probleme, wenn du einfach nur witzig sein willst“
Sie haben mit Ihrer Musik womöglich einige Beziehungen gerettet.
Wer weiß? (Lächelt)
Ganz bestimmt aber haben Sie mit „Je t’aime … moi non plus“ so manches Liebespaar zusammengebracht, oder?
Natürlich. „Je t’aime“ war seinerzeit aber nicht nur ein sexy Song, sondern auch ein Freiheitssong, die Leute sangen ihn, um gegen die Franco-Diktatur in Spanien und die Militärfaschisten in Südamerika zu protestieren. Selbstverständlich wurde er dort verboten. Ich stelle mir gerade einen dieser Diktatoren vor, wie er nachts an „Je t’aime“ denken muss und um den Schlaf gebracht wird (lacht).
War Ihnen die gesellschaftspolitische Bedeutung von „Je t’aime“ seinerzeit schon bekannt?
Nein, ich habe das erst nach und nach gelernt. Serge und ich wollten mit dem Song einfach nur lustig und sexy sein. In den späten 60ern ging das noch. Heute kriegst du sehr schnell Probleme, wenn du einfach nur witzig sein willst. Eine Menge Humor ist verloren gegangen, weil alles so superkorrekt zu sein hat heute. Das finde ich sehr schade. Wir fühlten uns damals wunderbar frei, während du heute jedes Mal, wenn du etwas sagst, besser über deine Schulter schaust, ob es jemand im Internet veröffentlicht. Man ist heute vorsichtiger geworden.
Werden wir uns daran gewöhnen, oder wird sich das gesellschaftliche Klima auch wieder ändern und so zwang- und teilweise zügellos werden wie in den 60ern und 70ern?
Wer weiß das schon? Ich kann mir vorstellen, dass wir uns anpassen. Ich zumindest achte heute genauer darauf, was ich sage, als früher.
Früher flirtete man auch unbefangener, oder?
Hm, das ist wahr. Das Flirten ist komplizierter geworden – für die Jungs. Ich habe keine Söhne, aber meine Tochter Lou (Lou Doillon, *1982, aus Birkins Ehe mit dem Regisseur Jacques Doillon, d. Red.) hat welche. Sie hat sie so erzogen, dass sie eine sehr hohe Meinung von Mädchen haben, und so wachsen sie ganz anders auf als die jungen Männer in meiner Generation. Sie sind sehr behutsam und beschützend. Heutzutage wird einfach ganz anders über diese Fragen nachgedacht, und das ist ja auch richtig. Wer könnte etwas gegen Gleichberechtigung haben? Ich erinnere mich, wie Charlotte (Birkins Tochter Charlotte Gainsbourg, *1971, d. Red.) Mitte der 90er in London in David Mamets Stück „Oleanna“ mitspielte. Ein Freund fragte mich damals, ob ich möchte, dass die Leute meine Tochter nicht mehr gernhaben.
In „Oleanna“ geht es um eine Studentin, die ihren Professor der sexuellen Belästigung bezichtigt und ihn am Ende regelrecht demütigt, richtig?
Ja, und in Frankreich sind wir sehr mediterran veranlagt, was Berührungen und Zärtlichkeiten angeht. Manch einem ging dieses frühe Stück zum Thema „politische Korrektheit“ und „sexuelle Übergriffigkeit“ damals zu weit. Ich konnte mir das nicht vorstellen, schließlich war das Stück in New York und London ein Erfolg gewesen. Aber der Freund hatte recht. In Paris verließen einige Menschen das Theater während der Vorstellung. Die Geschichte über eine Frau, die sich gegen einen Mann mit harten Mitteln zur Wehr setzt, war zu viel für das französische Moralverständnis. Ich wäre neugierig, was heute passieren würde, wenn „Oleanna“ gespielt werden würde, denn das Thema ist ja seit MeToo extrem präsent.
Auch „Je t’aime“ hat bei seiner Veröffentlichung 1968 für Kontroversen gesorgt. Würde das Lied heute wohl mehr Aufsehen erregen?
Das weiß ich wirklich nicht. Serge liebte es, einen Aufstand zu verursachen, ihm machte das selbstverständlich nichts aus. Ich denke eher nicht, dass es heute einen Skandal gäbe. Ich höre „Je t’aime“ auch hin und wieder nachmittags im Radio, und neulich erst kam „Blow Up“ (der Film, mit dem Birkin 1966 in der Rolle eines blonden Fotomodells ihren internationalen Durchbruch als Schauspielerin feierte, d. Red.) im Fernsehen, ohne dass jemand die Augenbrauen hochgezogen hätte. Im „Guardian“ haben sie „Je t’aime“ erst kürzlich zum
„sexiest song ever written“ erklärt. Ich glaube, die Menschen sind auch heute noch nicht so prüde, als dass sie mit „Je t’aime“ nicht zurechtkämen.
Sie haben eben erzählt, dass Sie als junge Frau mit Ihrem Selbstbild haderten. Wann haben Sie erkannt, dass Sie äußerst begabt und attraktiv sind?
Ich denke, das ist einfach nie passiert. Weil ich bis heute denke, dass ich weder schön noch talentiert war. Ich bekam bessere Chancen, als ich älter war. So etwa mit 40 fing ich an, interessantere Arbeit zu machen. Lous Vater, Jacques Doillon, war der Erste, der mich für wirklich anspruchsvolle Filmdramen besetzte wie „Ein kleines Luder“ mit Michel Piccoli und „Die Piratin“ mit Maruschka Detmers, der in Cannes lief. Auf einmal wurde ich ernst genommen und bekam auch tolle Theaterrollen. Und das bereits erwähnte „Quoi“ kam tatsächlich auf Platz eins in Frankreich, das war mir noch nie passiert. So hatte ich die Möglichkeit, eine Show im Bataclan in Paris zu spielen. Und ich war sprachlos über diese Einladung. Zum ersten Mal in einem Konzert sang ich daraufhin wirklich live, was meine Karriere komplett veränderte.
Sie sind immer sehr bescheiden, wenn es um Ihre frühe Karriere geht. Warum?
Ach, ich war das Mädchen, das sein Haar zurückwarf, sich die Lippen leckte, sexy Klamotten anzog, aber das bin einfach nicht ich gewesen. Später habe ich mir die Haare abgeschnitten und angefangen, Männerkleidung zu tragen. Serge war schockiert. Er meinte: „Oh nein!“, kam dann aber mit der Nagelschere und half, mir die Haare abzuschneiden. So sang ich also im Bataclan die Songs von Serge mit kurzen Haaren und war endlich nicht mehr diese püppchenhafte Person, die ich davor gewesen war. Mein Blick auf meine Karriere hat sich also vor allem deshalb verändert, weil ich selbst mich veränderte.
Sie haben diesen androgynen, geschlechterübergreifenden Look seinerzeit in der Modewelt und in der Gesellschaft berühmt gemacht, richtig?
Jawoll!
Ihre Tochter Charlotte drehte unlängst einen Dokumentarfilm über Sie – „Jane by Charlotte“ kam 2021 ins Kino. Mögen Sie den Film?
Ich musste mich erst echt überwinden, den Film, also mich selbst, anzuschauen. Ich wollte das auf keinen Fall im Kino machen mit lauter Leuten, die mich auf der Leinwand betrachten. Das ist ja peinlich. Also guckte ich ihn mir auf meinem iPhone an. Was Charlotte gemacht hat, ist fantastisch – sie hat es geschafft, mich witzig und traurig zugleich aussehen zu lassen. Ich war sehr dankbar, dass sie mich auf diese Weise eingefangen hat.
Ihr Leben schillert seit 76 Jahren in allen erdenklichen Farben. Sie haben große Triumphe und große Tragödien erlebt. Für viele Menschen sind Sie eine Konstante. Was, glauben Sie, sehen die Menschen in Ihnen?
Sie sehen sich selbst. Als ich vor einigen Jahren meine Tagebücher „Munkey Diaries“ herausbrachte, kamen junge Mädchen zu mir und sagten: „Du schreibst ja über mich und mein Leben.“ Ich hatte solche Angst, die Tagebücher zu veröffentlichen, weil ich fürchtete, sie seien viel zu banal und so durchschnittlich, dass die Leute enttäuscht sein könnten. Ich bin ja weder heldenhaft, noch habe ich große, starke Meinungen, die andere beeindrucken. Stattdessen berührte das Buch, weil ich dieselben Probleme hatte wie die meisten: Ich war einsam, ich fühlte mich oft missverstanden.
Was tun Sie gegen die Einsamkeit?
Ich spreche mit Menschen, die mir nahestehen, über Dinge, die sie beschäftigen. Mit mir kann man auch gut über Sachen reden, die einen nicht sehr sympathisch oder gut aussehen lassen. Ich denke, meine Freundinnen und Freunde fühlen sich in meiner Gesellschaft sicher und ein bisschen beschützt. Das macht das Leben für mich lebenswert.
Sie hören lieber zu, als selbst zu erzählen?
Ja. Als meine Tochter Kate (Kate Barry, 1967–2013, aus Birkins erster Ehe mit dem Komponisten John Barry, d. Red.) gestorben war, ging ich jeden Tag ins Kino. Manchmal schaute ich mir vier oder fünf Filme hintereinander an. Das Einzige, was mir ermöglichte, die Trauer einigermaßen auszuhalten, war, mich in die Schicksale anderer Menschen hineinzubegeben. Einmal sah ich „Manchester by the Sea“ und dachte, was ich erlitten hatte, ist ja nichts im Vergleich zu diesem armen Jungen, der seine Familie in einem Feuer verlor. Ich bin überzeugt: Filme heilen. Das Theater heilt. Musik heilt.
Sie haben sich gerade in Solidarität mit den Frauen im Iran eine Strähne Ihres Haares abgeschnitten. Warum?
Manchmal hilft es anderen Menschen, sich nicht so allein zu fühlen, wenn man etwas tut, mit dem man an sie erinnert. Die iranischen Frauen haben so ein von Angst und Schrecken geprägtes und riskantes Leben. Charlotte, die auch mitgemacht hat, und ich wollten zeigen: Wir denken an euch. Macht es einen Unterschied? Ich denke schon.
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