In Köln ist Wolfgang Niedecken ein Volksheld. Dank seiner Kölschrock-Band BAP und trotz seiner Karnevalsaversion. Und den Rest der Welt hat er auch erobert. Mit 18 Studioalben und Tourneen um den ganzen Globus. Wir tragen Wolfang Niedecken letztes Jahr zum Inerview – als er das 40-jährige Bestehen seiner Band mit einer ausgedehnten Bühnentour feierte. Zwischen zwei Konzerten trafen wir ihn in der Lobby des Mannheimer Hotels "Maritim". Er schwang, ganz "dä kölsche Jung us d'r Südstadt", lässig ein Bein über die Sessellehne, sprach mit sonorer Stimme und – zu unserer Erleichterung – in reinstem Hochdeutsch.
Playboy: Herr Niedecken, Sie haben 50 Jahre Rock 'n' Roll erlebt. Was war das beste Jahrzehnt für Rockmusik?
Niedecken: Das waren natürlich die 60er. Es ist ein Privileg, dass ich diesen Urknall miterleben durfte. Ich hänge da als 13-Jähriger in diesem Voreifel-Kaff rum, und auf einmal knallen die Beatles in mein Leben. Vorher gab es Schlager, Marschmusik und Kirchenmusik. Und auf einmal hörte man "From Me To You", "Thank You Girl" und "Misery". Ich dachte nur, Wahnsinn, das machen wir auch!
Playboy: Ihr erstes Konzert war dann aber von den Rolling Stones. Mussten Sie sich nie für eine der beiden Bands entscheiden?
Niedecken: Nein, da bin ich nicht drauf reingefallen. Ich hab die Platten alle gehabt. Es gab nur mal eine kleine Verwirrung, als sich unser etwas merkwürdiger Religionslehrer als Beatles-Fan outete. Mit dem wollte ich nichts gemeinsam haben. Also hab ich mich öffentlich nur noch als Stones-Fan zu erkennen gegeben.
Playboy: Wo liegen für Sie die jeweiligen Qualitäten der Bands?
Niedecken: Die Beatles waren sehr musikalisch, vor allem Paul McCartney. Und sie hatten das Glück, George Martin als Produzent zu haben. Bei den Stones spielt dagegen mein Lieblingsgitarrist: Keith Richards. Kein Verblüffer auf der Gitarre, aber er strahlt diese Lässigkeit aus, dieses Zurückgelehnte: Mit einer Handbewegung hat der ein ganzes Stadion im Griff. Er ist das lebendige Rock-'n'-Roll-Riff.
Playboy: Welchem Ihrer musikalischen Vorbilder sind Sie über die Jahre am nächsten gekommen?
Niedecken: Jetzt wird's eitel, aber ohne Bob Dylan gäbe es BAP nicht. Als ich Bassist in einer Schülerband war und der Sänger hinschmiss, brachte er vor seinem letzten Auftritt "Like A Rolling Stone" von Dylan mit. Das war wie ein Blitzeinschlag. Die Haltung, die rotzige Art, dieser Textinhalt und das Geheimnisvolle, das darin lag, das hat mich geflext. Ich hab zu meinem Freund Hein gesagt, der nicht in der Band spielte: "Hein, du musst jetzt Bass spielen, ich singe jetzt." Davon gibt es ein Foto, auf dem ich aussehe wie ein Kommunionkind, das als Paul McCartney verkleidet ist (lacht).
Playboy: Zu dieser Zeit besuchten Sie ein Internat ...
Niedecken: Ja, was am Anfang wirklich schlimm für mich war. Ich kam aus einem idyllischen Familienzusammenhalt. Die Kölner Südstadt war ein zerbombtes Dorf, in dem alle aufeinander aufpassten. Wir haben in den Trümmern gespielt – ein großes Abenteuer. Dann kam ich aufs Internat, in das Konvikt Sankt Albert in Rheinbach. Es wurde von drei Pallottinerpatern geleitet. Und wenn einer davon ein Sadist ist, dann ist schon ein großer Prozentsatz der reinste Horror. Die anderen beiden waren klasse, aber dieser Pater L. hat ein unglaubliches Regiment geführt. Dafür, dass ich da unbeschadet rausgekommen bin, bin ich sehr dankbar. Viele meiner ehemaligen Mitschüler wurden durch den Missbrauch in Sankt Albert gebrochen.
Playboy: Wie haben Sie das überstanden?
Niedecken: Die Rolling Stones haben mein Leben gerettet. Die haben mir als Vorbild gezeigt, wie ich damit klarkommen konnte. Ich hatte sehr früh eine Freundin. Mit 15 hab ich die vielbesungene Hildegard-Anna, die Hille, kennen gelernt, mit der ich bis 26 zusammen war. Das hat mir aus den sexuellen Wirrnissen herausgeholfen. Als der Pater dann weg war, hat es mich nicht mehr interessiert, dass mich ein älterer Mann begrabscht hatte.
Playboy: Sie waren so lange mit Ihrer ersten Liebe zusammen und sind jetzt erst zum zweiten Mal verheiratet – für Ihre Branche eher ungewöhnlich. Wie kommt's?
Niedecken: Es gibt nicht viele furchtbar wichtige Frauen in meinem Leben. Natürlich gab es auch mal One-Night-Stands. Aber das war eher in einer Zeit, wo ich etwas verzweifelter war. Ansonsten bin ich relativ monogam veranlagt.
Playboy: Passt das zum Tour-Lebensstil?
Niedecken: Doch, das gibt mir Halt. Ich muss wissen, wo ich hingehöre. Familie ist mir unglaublich wichtig. Als ich meine erste Frau kennen lernte, wollte ich als freier Maler leben, aber dann kam mir dieses Hobby dazwischen. Das hat sich mit Carmens Lebensplan nicht vertragen. Wenn ich zu Hause die Gitarre angepackt habe, hing der Haussegen schief. Das war zum Scheitern verurteilt. Wenn du nicht mehr gern nach Hause kommst, nimmst du natürlich unterwegs alles mit, was du kriegst.
Playboy: Waren die Versuchungen groß?
Niedecken: Ich hab ihnen lange standgehalten, aber irgendwann war es zu viel.
Playboy: Wann gab es denn die meisten Groupies?
Niedecken: Natürlich Anfang der 80er-Jahre. Es gab Leute in der Band, die haben das ziemlich genossen. Die sind uns hinterhergefahren und haben vor dem Hotel gecampt. Vor allem im Winter fühlten wir uns für die verantwortlich. Dann haben wir Hotelzimmer für sie gebucht, damit die da drin schlafen konnten.
Playboy: Gibt es auch Geschichten, die Ihre Kinder nie erfahren sollten?
Niedecken: Nö. Manchmal sagt jemand, musst du das deinen Kindern erzählen? Dann sage ich, klar, das sind ja meine Vertrauten. Ich hab auch nichts zu verbergen. Das große Debakel meines Lebens war, dass ich eine Familie in den Sand gesetzt habe. Kein Scheiß, da leide ich immer noch drunter. Das hört sich nicht rockig an, aber ich bin schon sehr verantwortungsbewusst, und das wurmt mich total.
Playboy: Monogam und verantwortungsbewusst: Wo bleibt da der Rock 'n' Roll?
Niedecken: Wahrer Rock 'n' Roll ist eigentlich, eine Familie unter diesen Voraussetzungen zu führen.
Playboy: Wie geht das?
Niedecken: Mit einer Frau, die von vornherein weiß, worauf sie sich einlässt. Man darf nicht klammern. Wenn du die Freiheit einsperrst, ist sie weg. Das habe ich aus meinen elf Jahren Klammerblues gelernt. Gott sei Dank habe ich schließlich meine Frau Tina kennen gelernt.
Playboy: Lassen Sie uns zurückkommen auf BAP: 1984 haben Sie eine DDR-Tour abgesagt, weil die Staatsmacht Sie zensieren wollte. Was stand in Ihrer Stasi-Akte?
Niedecken: Da gab es keine Überraschungen. Ich habe sie angefordert, weil ich wissen wollte, ob zwei Freunde über mich berichtet hatten. Als ich dann wusste, dass es nicht so war, kam ich mir scheiße vor. Ich habe aber mit beiden darüber geredet, und beide haben sie gesagt, es ist okay. Wir sind heute noch befreundet. Eine irre Zeit.
Playboy: 1987 spielten Sie dann mit BAP im sozialistischen China. Wie kam es dazu?
Niedecken: Nach dem Tod Heinrich Bölls haben wir Mitte der 80er im Kölner Gürzenich zwei Stücke gespielt. Seine chinesische Übersetzerin war da und sagte anschließend, das müsste die Jugend Chinas doch auch mal zu hören kriegen. Wir hielten das für Smalltalk. Aber ungefähr ein Jahr später kam eine Anfrage. Wir sollten eine Delegation nach China schicken, um Hallen auszusuchen. Wie, Hallen? Wie, China? Wir dachten, da kennt uns doch keiner. Aber 1987 haben wir tatsächlich jeweils dreimal in Peking, Shanghai und Kanton gespielt, vor jeweils 18.000 Menschen, die nicht wussten, was Rock 'n' Roll ist.
Playboy: Seit 1992 in Rostock-Lichtenhagen Flüchtlingsheime brannten, haben Sie mehrere große Konzerte gegen Rassismus veranstaltet. Wäre es angesichts der politischen Lage heute wieder Zeit für so ein Konzert?
Niedecken: Diese Konzerte sind gut, um ein Signal zu setzen. Aber zu glauben, danach ist alles gut, wäre ein Trugschluss. Das Wichtigste, was ich als kleiner Singer-Songwriter tun kann, ist, mit meinen Texten die Empathiefähigkeit der Leute wachzuhalten.
Playboy: Mit "Rebound" engagieren Sie sich in Afrika für die Wiedereingliederung ehemaliger Kindersoldaten. Woher kommt Ihr Interesse an diesem Thema?
Niedecken: Ich habe mich immer für Afrika interessiert, und 2004 kam die Anfrage von "Gemeinsam für Afrika", ob ich nicht deren Sonderbotschafter werden wolle. Als wir dann mit einem kleinen Militärflugzeug in Norduganda gelandet sind, herrschte dort Bürgerkrieg. Wir wurden, flankiert von zwei Panzerspähwagen, in eine gesicherte Zone gefahren. Überall waren Panzer. Dann wurde mir erklärt, wie grausam das in Norduganda mit den Kindersoldaten abläuft. Nachdem die Kinder aus den Flüchtlingslagern entführt werden, kommen sie ein paar Tage später zurück und müssen die Oma, den Opa oder die kleine Schwester massakrieren, damit der Weg zurück in die Familie verstellt ist. Es ging gar nicht anders, als da aktiv zu werden. Seit der Bürgerkrieg vorbei ist, machen wir im Ostkongo weiter. Man könnte in der jetzigen Situation auch sagen, wir kümmern uns lieber um syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Aber wie könnte ich den Kids im Ostkongo noch in die Augen sehen, wenn ich ihnen sagen würde, das andere ist medienmäßig geiler, seht mal zu, dass ihr euern Kram selber hinbekommt. Das geht einfach nicht. Ich muss dabeibleiben.
Playboy: Dieses Engagement konnte auch Ihr Schlaganfall nicht stoppen. Können Sie dem fünf Jahre danach auch etwas Gutes abgewinnen?
Niedecken: Ja klar. Ich bin entschlossener geworden und kann mich viel schneller zu einer Entscheidung durchringen. Dahinter steht eine ganz einfache Erkenntnis: So viel Zeit habe ich nicht mehr. Heinrich Böll hat mal einen schönen Satz dazu gesagt: "Zeit ist das Wertvollste, was es gibt. Zeit ist wertvoller als ein 24 Meter langes Auto." (lacht) Das war ein großes Privileg, dass ich ihn kennen lernen durfte.
Playboy: Ein anderer Freund von Ihnen ist Bruce Springsteen. Was verbindet Sie mit ihm?
Niedecken: Wir sind dieselbe Generation, und wenn Bruce und ich uns treffen, ist das Erste fast immer: "Haste das neue Album vom Dylan gehört, wat meinste?" Und dann sind wir beide Fans und unterhalten uns darüber, was der Meister so macht.
Playboy: Und wie ist das neue Dylan-Album?
Niedecken: Ach, der kann von mir aus das Telefonbuch rückwärts singen. Ich verdanke dem Mann so viel, der soll nur glücklich sein. Ich saß mit Herbert Grönemeyer beim Dylan-Konzert in Berlin in der dritten Reihe, und wir fanden es super. Er ist halt jetzt 75, und wenn er Sinatra singen will, singt er Sinatra. Wo ist das Problem?
Playboy: Wenn in 100 Jahren jemand die BAP-Diskografie hört, was erfährt er dann über unsere Zeit?
Niedecken: Wenn er alles ordentlich durchhört, dann erfährt er, was meine Generation bewegt hat. Eines meiner wichtigsten Lieder war mit Sicherheit "Kristallnaach", das jetzt bei "Sing meinen Song" von Sammy Deluxe gecovert wurde. Der Staffelstab ist also weitergereicht an die nächste Generation, das macht mich stolz.
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