Er ist der schrillste Vogel im deutschen Handball. Ex-Nationalspieler Stefan Kretschmar feierte die Nächte vor den Partien durch und gewann trotzdem. In Sachen Draufgängertum kann die DHB-Auswahl bei der WM, die am 10. Januar beginnt, noch viel von ihm lernen
Tief in der Brandenburger Pampa liegt die „Fischerstube Stolzenhagen“. Kein Ort, an dem man einen Paradiesvogel wie Stefan Kretzschmar vermuten würde. Als er das urige Lokal betritt, begrüßt er die Kellnerin per Handschlag, schließlich wohnt er in der Nähe. Dann nimmt er draußen Platz und zündet sich eine Zigarette an. Untypisch für Ex-Profis. Typisch für ihn. Ein Ausnahmesportler eben.
Playboy: Herr Kretzschmar, Sie haben Ihre Karriere vor elf Jahren beendet. Was glauben Sie, warum Sie uns als Allererster eingefallen sind, mit dem wir gern über die bevorstehende Handball-WM sprechen würden?
Stefan Kretschmar: Weil es anscheinend keine Superstars dieser Art mehr im deutschen Handball gibt. Das ist paradox. Denn in den Medien wird der Ruf nach kantigen Typen immer lauter. Doch die gibt es heute nicht mehr, weil wir im Zeitalter von Social Media leben. Man darf sich keine Fehltritte mehr erlauben.
Auch Sie selbst fordern mehr Typen im Handball.
Das stimmt. Aber ich musste akzeptieren, dass es nicht mehr so einfach ist wie in den Neunzigern. Da war man noch unbeobachtet.
Hat sich das in einem Sport wie Handball, der die Massen weniger packt als Fußball, so krass geändert?
Wenn 16 Zweimetermänner in einen Club kommen, dann weißt du: Hier ist gerade jemand, den müsste man eigentlich kennen. Das spricht sich dann innerhalb von wenigen Minuten rum. Deswegen büxen Spieler heute nicht mehr aus dem Hotel aus, um einen draufzumachen.
Was Sie auch regelmäßig gemacht haben?
(Grinst) Na klar!
Und – erwischt worden?
(Grinst) Na klar!
„Ich habe immer abgeliefert“
Erzählen Sie!
Als wir zum Beispiel 2003 mit dem SC Magdeburg auf Champions-League-Fahrt in Island waren, bin ich mit zwei anderen Teamkollegen am Abend vor dem Spiel noch ausgegangen. Eigentlich war das streng verboten, denn unser Trainer war Isländer, und für ihn war es das wichtigste Spiel des Jahres. Aus einem Whisky-Cola wurden viele, und am Ende waren wir bis sechs Uhr morgens dezent angetrunken im Club. Am nächsten Tag haben sich meine beiden Mannschaftskameraden erst mal heimlich in die Nachbarkabine übergeben. Ich habe zwölf Tore gemacht, und wir haben das Spiel gewonnen. So weit also alles super.
Bis Ihr Trainer dahintergekommen ist?
Und raten Sie mal, wie? Der hat es aus dem isländischen Fernsehen erfahren. Denn zur Videoanalyse hat er sich die Originaltapes geholt, und bei Minute 40 sagt der Kommentator: „Kretzschmar geht zum 7-Meter-Punkt. Er ist kurz davor, sein neuntes Tor zu machen. Macht ein super Spiel. Wundert mich eigentlich. Wo er doch letzte Nacht noch bis um vier im Club gewesen ist.“ Der hatte mich anscheinend gesehen.
Wie ging Ihr Trainer damit um?
Der hat uns natürlich zusammengestaucht. Jeder musste 500 Euro in die Mannschaftskasse zahlen, und dann hat der Trainer mich zur Seite genommen und gesagt: „Ich weiß, dass du besser spielst, wenn du am Abend davor loswarst, aber nimm keinen mit!“
Sie haben wirklich besser gespielt, wenn Sie am Abend davor getrunken hatten?
Ich habe immer abgeliefert. In Gummersbach hatte ich eine WG mit Jörn Schläger (ehemaliger Handball-Nationalspieler, Anm. d. Red.). Vor jedem Spiel saßen wir in der Küche zusammen, und jeder musste am nächsten Tag so viele Tore schießen, wie er Weizenbier getrunken hatte. Bei mir ist das aufgegangen.
Sie waren einer der besten Spieler der Welt auf Ihrer Position.
Ja, aber alle waren damals so drauf. Heute ist der Sport viel professioneller. Ernährung hieß für uns früher Pommes, Pizza oder Fertiggerichte. Heute gibt es Ernährungsberater und Musiktherapie.
Tut das dem Sport gut?
Handball ist heutzutage viel athletischer als früher. Und Teambuilding funktioniert mittlerweile auch anders. Die deutsche Nationalmannschaft hat kürzlich vor dem Länderspiel gegen Israel einen Kochabend gemacht.
Machen „Bad Boys“ einen Kochabend vor einem Spiel?
Ich kann mich darüber nicht lustig machen. Die können ja nichts anderes anstellen, ohne Probleme zu kriegen. Und übrigens war der Titel „Bad Boys“, den der damalige Nationaltrainer Dagur Sigurdsson dem Team gegeben hat, das größte psychologische Meisterwerk in der Geschichte des Handballs.
Warum?
Das waren ja alles ganz liebe Schwiegersöhne. Die Kunst war, dieser Mannschaft das Gefühl zu geben: Ihr müsst jetzt knallhart sein. Und auf einmal glauben die daran, sind knallhart und werden 2016 Europameister.
"Früher hat man die Gegner absichtlich verletzt"
Ist Handball noch hart genug?
Um eins klarzustellen: Er war früher viel härter. Früher hat man absichtlich entscheidende Spieler des Gegner-Teams verletzt. Das war eine offizielle Ansage in der Kabine.
Gibt es so etwas heute noch?
In der Form nicht, nein. Kann man gut oder schlecht finden.
Wie finden Sie das?
Die Grenze wäre für mich, jemanden vorsätzlich ernsthaft zu verletzen. Das ist in der Tat Körperverletzung. Aber eine gesunde Härte ist natürlich das Salz in der Suppe.
Während der letzten Fußball-WM wurde Jérôme Boateng vorgeworfen, sich mehr um sein Outfit und die Frisur zu kümmern als um den Sport. Der Vorwurf müsste Ihnen vertraut sein, oder?
Eigentlich nicht. Ich bin ja nicht zum Friseur gegangen. Und optisch war das ja, im Nachhinein betrachtet, keine Verbesserung, eher eine Verunstaltung.
Das könnte man bei Boateng auch sagen.
Bei Jérôme hängt aber ein riesiges Marketingimperium mit dran. Bei mir war das ja keine Strategie. Mein Piercer hat im selben Haus wie ich gewohnt, und wenn mir langweilig war, habe ich mich eben von ihm piercen lassen.
Trotzdem profitieren Sie bis heute als TV-Experte von diesem Image als unangepasster Typ.
50 Prozent sind Image. Aber du musst auch durch eine gewisse Eloquenz überzeugen. Als Sportler hast du nur eine kurze Spanne, um Geld zu machen. Danach musst du schauen, wo du bleibst.
Und wie sieht es bei Ihnen aus?
Seit ich meine Finanzen selbst verwalte, geht es mir super. Ich habe allerdings 40 Jahre gebraucht, um zu realisieren, dass ich das auch selber kann.
Wurden Sie falsch beraten?
Ich habe viel Geld für mein Management bezahlt. Jahrelang habe ich das für Hexenwerk gehalten, weil es mir auch so verkauft wurde. Im Gegenzug musste ich mir um nichts Sorgen machen und habe Taschengeld bekommen.
Und dann steckten Sie in ernsthaften Schwierigkeiten?
Na ja, sagen wir so: Ich habe rechtzeitig das Ruder übernommen, um noch mal alles in Bahnen zu lenken, die mir ein sorgloses Leben erlauben.
Haben Sie viel verprasst?
Nein, ich bin kein Luxustyp.
Sie hatten einen Whirlpool mit Blick auf den Fernseher in Ihrem Magdeburger Loft.
Das hat ja alles keine Unsummen gekostet. Das lief über Sponsoren. Luxusartikel reizen mich nicht. Ich fahre ein schönes Auto, aber ich habe keinen Uhren- oder Klamottenfetisch.
Sie sind sehr umtriebig, hatten Ihre eigene Talkshow, eine Golfmode-Linie und bringen jetzt am 7. Dezember Ihr zweites Buch, „Hölle-luja“, raus.
Ich habe alles Mögliche ausprobiert. Mir hat der Handball allein nie gereicht.
Wovon handelt Ihr Buch?
Es geht darum, dass Handball der geilste Sport der Welt ist.
"Man muss den Leuten erzählen, dass es noch mehr gibt als Fußball"
Und warum?
Es ist die vielleicht kompletteste Sportart. Da ist Tempo drin, Kampf, und ein 5-Tore-Vorsprung kurz vor Schluss hat nichts zu bedeuten. Man muss den Leuten erzählen, dass es noch mehr gibt außer Fußball. Schließlich haben wir in Deutschland 800.000 aktive Handballspieler.
Erwarten Sie zur kommenden WM Euphorie bei den Fans?
Für uns ist das jetzt Weihnachten. Er ist der Event, von dem alle in diesem Sport leben. Davon müssen wir profitieren. Aber Grundvoraussetzung dafür ist natürlich der Erfolg unserer Nationalmannschaft.
Wie schätzen Sie denn die Chancen des deutschen Teams ein?
Wir sind einer von acht Favoriten – darunter Spanien, Frankreich, Kroatien, Island und Dänemark. Wir haben eine gute Mannschaft, und ich glaube, die Vorrunde überstehen wir auf jeden Fall. Ein zweiter Vorrunden-Platz hinter Frankreich ist gut möglich.
Und danach?
Ab der Hauptrunde wird es spannend. Da kommen dann alle Favoriten zusammen. Ich bin zwar optimistisch, aber du kannst auch nach einer guten Vorrunde punktlos aus der Hauptrunde scheiden.
Neben Köln sind München, Hamburg und Berlin Austragungsstädte. Was ist für Sie der attraktivste WM-Standort?
Berlin! Die Frage hättest du dir auch selbst beantworten können. Nein ernsthaft, mal abgesehen von meiner Liebe zu Berlin: Dort finden die Gruppenspiele unseres Nationalteams in der Mercedes-Benz Arena statt. Das wird ein riesen Handballfest.
Sie haben jahrelang in der Handball-Hochburg Magdeburg gespielt. Damals prangte Ihr Konterfei auf der Stadtbahn, Sie hatten Ihre eigene Kneipe und eine Schuhkollektion. Die Frauen müssen Ihnen zu Füßen gelegen haben, oder?
Jeder, der Handball spielt, ist in seinem Nest der Provinz-Prinz. Das öffnet einem viele Türen. Frauen, die Typen wie mich sonst niemals beachtet hätten, waren dann natürlich interessiert, als sie herausfanden, wer ich war. Das heißt aber nicht, dass ich das schamlos ausgenutzt hätte (grinst).
Text: Max Krones
Fotos: Max Menning
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