"Rettungsgasse ist kein Straßenname" - Interview mit einem Rettungssanitäter

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Man sagt, das Leben schreibt die besten Geschichten. Im Falle des Notfallsanitäters und Feuerwehrmanns Jörg Nießen trifft das absolut zu. Er hat seine Berufsabenteuer in ein Buch verpackt: "Rettungsgasse ist kein Straßenname". Im Interview spricht er über sein neuestes Buch und den Alltag als Rettungssanitäter.

Vom erstaunlichen Unvermögen, Rettungsgassen zu bilden, kann Notfallsanitäter und Feuerwehrmann Jörg Nießen ein Lied singen – die Straßen seiner nordrhein- westfälischen Großstadt bieten täglich neues Anschauungsmaterial. Nach seinem Debüt "Schauen Sie sich mal diese Sauerei an" und dem Nachfolger "Die Sauerei geht weiter …" erzählt Jörg Nießen erneut von den skurrilsten, lustigsten und berührendsten Situationen seines Berufsalltags und gewährt in seinen Geschichten humorvolle Einblicke hinter die Kulissen der deutschen Notfallrettung.

Im Interview mit dem Verlag "Eden Books" spricht Jörg Nießen über die besondere Spezies der VerkehrsteilnehmerInnen, die größten Herausforderungen in seinem Beruf und darüber, was wir alle vom Rettungsdienst lernen können, damit wir dieses Jahrhundert überleben.

"'Darüber müsste mal jemand ein Buch schreiben.' Ich habe es halt gemacht"

„In meinem beruflichen Umfeld fällt oft der Satz: ‚Darüber müsste mal jemand ein Buch schreiben.‘ Ich habe es halt gemacht.“, so Nießen auf die Frage, wie er eigentlich auf die Idee kam, Bücher über seinen alltäglichen Wahnsinn als Rettungssanitäter zu schreiben. „Meine langjährige Lebensgefährtin ist aber auch nicht unschuldig. Verschiedene Anekdoten musste ich im Freundes- und Bekanntenkreis des Öfteren wiederholen. Meine bessere Hälfte schlug dann vor, es aufzuschreiben. Dann könne es jede/r Interessierte lesen, sie selbst könne das Zeug nicht mehr hören.“

Natürlich hoffe er mit seinem neuen Buch, die Leser seiner vorherigen Bücher erneut zu erreichen und auch wieder zu begeistern. „Ich habe ein ganz gutes Gefühl dabei. Die Geschichten sind authentisch und skurril, dabei aber auch humorvoll, und manchmal gibt es sogar ein paar Gefühle.“, so der Rettungssanitäter. Den Grund für den Buchtitel „Rettungsgasse ist kein Straßenname“ begründet er so: „Es gab mehrere gute Ideen, aber diese hat sich durchgesetzt. Der Titel erhebt zwar ganz leicht den Zeigefinger, verbindet dabei aber wunderbar eine seit Jahren aktuelle Diskussion mit der manchmal verzweifelten und sarkastischen Sichtweise der Rettungskräfte.“

Der Autor Jörg NIeßen ohne seine Arbeitskleidung

Langeweile kommt dem Buch nach zu urteilen nie wirklich auf, denn Nießen’s Alltag ist kunterbunt, unvorhersehbar und sehr abwechslungsreich. Natürlich gibt es auch weniger aufregende Tage, aber diese sind selten. Auf die Fragestellung, wie denn so ein „typischer Tag“ als Notfallsanitäter aussieht, sagt er: „In der Regel ist es heute ein 12-Stunden Tag, [...]. Einen typischen Tag kann man kaum beschreiben. Sind Sie als Retter in einer Großstadt tätig oder auf dem Land? Reden wir über eine Tag- oder eine Nachtschicht? Wochentags oder am Wochenende? Viele Faktoren spielen eine Rolle. Gerade haben Sie in einer Betonpfütze um das Leben eines abgestürzten Bauarbeiters gekämpft und zwei Stunden später stehen Sie bei Familie XY, mit immer noch schmutzigen Schuhen, im Wohnzimmer. Sören (16 Jahre) hat sich heute schon nachmittags betrunken – die Gesamtsituation ist unschön und die Eltern überfordert.“

Eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe - der Beruf des Rettungssanitäters zählt nicht ohne Grund zu einem der angesehensten Berufe Deutschlands. Wie Jörg Nießen seine Arbeit in drei Worten beschreiben würde? „Bereichernd – zehrend – herausfordernd.“ Und was schätze er am meisten? „Die Wertschätzung für meine Berufsgruppe, egal ob Rettungsdienst oder Feuerwehr, ist natürlich schön und auch nicht unwichtig für das eigene Selbstverständnis.“ Er möchte aber darauf hinweisen: "Es gibt weniger respektierte Berufe, die für eine funktionierende Gesellschaft mindestens so wichtig sind wie die Feuerwehr und der Rettungsdienst, quasi alle Pflegeberufe, aber auch die Polizei, das Ordnungsamt, die Ver- und Entsorger und viele andere mehr.“

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Die Arbeit als Notfallsanitäter ist nur ein Teil seines Berufslebens, denn streng genommen arbeitet er im mittleren feuerwehrtechnischen Dienst. „Mein Werdegang wurde aber maßgeblich durch meinen Zivildienst im Rettungsdienst geprägt.“, so der Feuerwehrmann. Die damaligen Kollegen haben ihn durchaus positiv geprägt. Apropos Kollegen: Das Verhältnis im Team untereinander ist nicht anders als bei jedem anderen Menschen, der mit Arbeitskollegen auskommen muss. „Es gibt Tage, da ist der Dienst ein Fest, und es gibt Tage, da möchte man nach Dienstantritt sofort wieder nach Hause fahren – da muss man dann durch.“ Sein Lieblingskollege im Buch, „Hein“, existiert im echten Leben aber gar nicht. „Hein sind viele. Er ist eine von mir geschaffene Figur, die zwar auf den Charakterzügen von Kollegen basiert, aber je nach Geschichte modelliert und angepasst wird.“

Jörg Nießen hat eine langjährige Berufserfahrung und gefühlt alles erlebt. Auf die Frage, wie man denn nun richtig mit ungewöhnlichen, unerwarteten Situationen umgeht, hat er eine simple Antwort parat: „Ganz einfach! Hängt in jedem Aufzug: ‚Ruhe bewahren!‘ Ansonsten hilft Feuerwehrtaktik, die irgendwann in Fleisch und Blut übergeht. Situation erkennen, Situation beurteilen, notwendige Handlungen daraus ableiten ... Funktioniert auch oft im restlichen Leben.“

„Mich belasten die Einsätze, in denen ich feststellen muss, dass unser soziales System versagt und Menschen unter unwürdigsten Bedingungen leben müssen“

Trotz dem Versuch, ruhig zu bleiben und die Dinge mit Humor zu nehmen, gibt es dann doch Fälle, die nicht spurlos an ihm vorbei gehen und ihn gedanklich länger begleiten. „Es sind nicht die Schwerverletzten, nicht die Herzinfarkte oder Asthmaanfälle, die mich mitnehmen. Das sind alles Einsätze, bei denen man mit medizinischem Handwerk die Situation verbessern kann. Mich belasten die Einsätze, in denen ich feststellen muss, dass unser soziales System versagt und Menschen unter unwürdigsten Bedingungen leben müssen. Leider sind die Möglichkeiten der Feuerwehr und des Rettungsdienstes an dieser Stelle relativ beschränkt.“

Und wie sieht der private Ausgleich zu so einem erlebnisreichen Berufsalltag aus? „Langweilig, wenn ich nicht mit dem Hund spazieren gehe, schreibe ich Bücher.“ Die Kurzgeschichten im Buch zeigen, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Es gibt aber immer eine Lieblingsgeschichte, die man gern unter Freunden zum Besten gibt. Sein persönliches Highlight im aktuellen Buch: „Mit 66 Jahren...“. „Es geht um einen älteren Herrn, der seinen Kokainkonsum nicht ganz im Griff hat, und für die Nachbarschaft ein kleines Konzert gibt. In diesem Zusammenhang: Ich beabsichtige, auf Lesungen zukünftig gemeinsam mit dem Publikum mindestens einen Klassiker von Udo Jürgens abzusingen.“

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Verschiedene Situationen, verschiedene Menschen – Patienten, Angehörige, Schaulustige oder andere Verkehrsteilnehmer. Die größte Herausforderung für Jörg Nießen ist, sich möglichst schnell auf das Gegenüber einzustellen. „Vergleichen Sie die Situation mit einem Vorstellungsgespräch, bei dem Ihnen die GesprächspartnerInnen vorher auch nicht bekannt sind. Schaulustige sind eine Sache für sich. Neugier mag ein natürlicher Trieb sein, darf aber nicht dazu führen, dass Rettungskräfte behindert werden. Über VerkehrsteilnehmerInnen könnte ich abendfüllend berichten. Hier trifft sich vorbildliches Verhalten mit tragischem Unvermögen, beziehungsweise Überforderung. Manchmal sogar übertroffen von teilweise schon absurder Überheblichkeit.“

Man muss die Fälle auch richtig einschätzen können. Nießen unterscheidet im Buch zwischen berechtigten Einsätzen, Alarmierungen in gutem Glauben, Alarmierungen ohne Patient und böswilligen Alarmierungen. „Völlig berechtigte Einsätze sind nach wie vor das Gros aller Notfalleinsätze. Aus meiner sehr persönlichen Sicht steigt allerdings die Zahl der Einsätze, die zwar in gutem Glauben erfolgen, aber für den Rettungsdienst eigentlich nicht relevant sind. Die Notrufnummer 112 und auch der Begriff des Notfalls wird von der Bevölkerung nur undifferenziert genutzt.“

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Das Coverbild für sein aktuelles Buch "Rettungsgasse ist kein Straßenname" - erschienen bei Eden Books

Im Buch ist das „Cafe Journal“ nach seinen Angaben das Refugium für Männer, die es im Leben geschafft haben. „Können Sie es sich leisten, schon um 09:30 Uhr das erste Pils zu lenzen? Ich nicht ... Und abgesehen von der notwendigen Tagesfreizeit: Der von mir beschriebene Ort bedarf auch einer gewissen intellektuellen Teilhabe, die einem Stammtisch gleicht. Ich bin hier nur Zuschauer.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob der Mensch in seiner jetzigen Gesellschaftsform dieses Jahrhundert überleben wird“

In seinem Buch und auch im echten Leben trifft der Notfallsanitäter auch immer wieder auf die kleinen und großen Beziehungsdramen und -konstellationen. „Ich bin mir nicht sicher, ob der Mensch in seiner jetzigen Gesellschaftsform dieses Jahrhundert überleben wird.“

"Rettungsgassen können nachweislich Leben retten." Theoretisch wissen wir das alle. Dass es in der Praxis oft nicht funktioniert, erlebt Jörg Nießen fast täglich. Immer wieder wird er von seinen Mitmenschen herausgefordert - nicht nur im Straßenverkehr. Der Retter von heute muss die großen und kleinen Probleme unserer Gesellschaft verhandeln, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der Bestseller-Autor bildet mit seinem neuen Erlebnis-Buch eine literarische Rettungsgasse der besonderen Art.