Wir hatten dasselbe Stammlokal: das „Filou“ in der Bleibtreustraße. Solides Berlin-Charlottenburg, aber in den wilden Neunzigern ein beliebter Treffpunkt für DJs, Clubbesitzer und Plattenmenschen. Meine damalige Freundin stellte mir Paul van Dyk irgendwann vor. Dem ersten Abendessen dort folgten viele weitere - und unzählige Auftritte, bei denen ich neben Pauls DJ-Kanzel stand, von Ibiza bis New York. Paul ist Vielflieger und durch die langen Reisezeiten auch ein Vielleser. Als einer der Ersten darf er meine neuen Buchmanuskripte lesen und kritisieren. Im letzten Buch kamen der Held und seine große Liebe nicht zusammen. Das hat Paul so aufgeregt, dass ich keine Wahl hatte: Mein neuer Roman über die Techno-Szene in der Post-Mauer-Ära musste anders enden.
Schmidt: Paul, wann hast du erfahren, dass die Mauer geöffnet worden ist?
van Dyk: Ich saß abends in Hamburg mit meiner Mutter auf der Couch und habe ferngesehen, als plötzlich unten eine News-Headline über den Schirm lief. Der erste Gedanke war: Was ist das denn für ein Unsinn?! Und schon riefen die ersten West-Verwandten an. Aber wir wussten nicht, was geschehen war. Und du?
Schmidt: Ich lebte als Student im Süden Londons in einem verkommenen Haus und wurde morgens von meinen englischen Freunden geweckt mit den Worten: „The wall has come down!“ Es war viel zu früh, ich hatte einen Mordskater. Mauer offen? Quatsch, habe ich gedacht - und mich unter der Decke vergraben. Da stellten sie den Fernseher so laut, dass ich den fassungslosen BBC-Reporter hören konnte. - Aber wieso wart ihr überhaupt in Hamburg?
van Dyk: Das war ja das Aberwitzige! Wir waren gerade erst, nach fast zwei Jahren Wartezeit und Schikanen, ganz offiziell am 1. November aus der DDR ausgereist!
Schmidt: Ihr habt für eure Freiheit gekämpft - acht Tage später gibt es sie für alle. Was hast du dabei empfunden?
van Dyk: Ich hatte zunächst sehr zwiespältige Gefühle. Denn vor allem meine Mutter hatte alles zurücklassen müssen. Jeder einen Koffer, mein Hund - das war’s. Aber dass alle Vertreter des Systems, die uns Knüppel zwischen die Beine geworfen hatten, jetzt dieselbe Freiheit haben sollten, das war ein seltsames Gefühl.
Schmidt: Da kam keine Freude auf?
van Dyk: Doch, doch, die überwog schließlich, auch wenn ich es erst gar nicht glauben konnte.
Schmidt: Zehn Tage später bist du das erste Mal zurück in den Osten. Wie war das?
van Dyk: Ein komisches Gefühl. Ich hatte meine Freunde in dem Bewusstsein verlassen, sie nie wieder zu sehen. Das war erst gut zwei Wochen her, trotzdem fühlte es sich für beide Seiten nie wieder wie vorher an. Wahrscheinlich, weil ich mich wegen der anvisierten Ausreise schon Monate vorher immer mehr zurückgezogen hatte.
Wir sitzen in Pauls Altbau-Büro in Charlottenburg. In den Nebenräumen arbeitet sein Personal. Paul hat seine eigene Plattenfirma - er ist ein erfolgreicher Unternehmer. Der Vorwende-Osten könnte nicht weiter weg sein.
Schmidt: Wovon hast du gelebt?
van Dyk: In Ostberlin hatte ich Facharbeiter für Nachrichtentechnik werden wollen, aber in Hamburg hatte ich damit keine Chance. Also bin ich nach Berlin und ging eine Lehre als Tischler an.
Schmidt: Wieso nicht gleich als Musiker?
van Dyk: Ich war ein totaler Musikfreak, aber nur als Zuhörer. Was anderes kam mir damals noch nicht in den Sinn. Eine entscheidende Rolle hat das West-Radio gespielt. Kannst du dir vorstellen, wie frustrierend das für mich war, diese neue Musik im Radio zu hören, aber nicht dorthin zu können, wo alles passierte? Ich wohnte mit meiner Mutter in Friedrichshain. Das „Ufo“, DIE Geburtsstätte der Berliner Techno-Szene, war 500 Meter weg - aber dazwischen war die Mauer.
Schmidt: Im „Ufo“ waren alle, von Dimitri Hegemann, dem späteren „Tresor“-Macher, bis hin zu Dr. Motte, dem Love-Parade-Erfinder.
van Dyk: Genau. Trotzdem hat mich dann die Musik ein bisschen enttäuscht. Hier wurde nur eine Richtung gespielt, das war mir zu wenig. So fing ich an, Tapes zu mixen. Mit Kassettenrekorder und Plattenspieler.
Schmidt: Mit einem Plattenspieler?
van Dyk: Mehr konnte ich mir nicht leisten. Den hatte ich für fünf Mark auf dem Flohmarkt gekauft.
Schmidt: Wie kam es zu deinem ersten Auftritt im legendären „Tresor“?
van Dyk: Durch Zufall. Ein Freund drückte denen ein Tape von mir in die Hand - und ich wurde gebucht. Noch nie aufgelegt, plötzlich stand ich da. Zu Hause musste ich immer die Bässe rausdrehen wegen der Nachbarn, hier hatten sie gerade ein neues Bassröhrensystem installiert. So hatte ich meine Musik noch nie gehört.
Schmidt: Hat’s geklappt?
van Dyk: Sagen wir so: Es war noch früh, die Leute kamen, weil nach mir Tanith auflegte, ein anderer Techno-Pionier der ersten Stunde - aber niemand ist ge-gangen. Kann also nicht so schlecht gewesen sein.
Dieses Understatement ist typisch. Vor einer gemeinsamen Reise nach New York hatte ich ihn mal gefragt, ob die Amerikaner überhaupt etwas mit seiner Musik anfangen könnten. Na ja, sagte er, einige fänden das wohl ganz gut. Im Central Park drängten sich dann Tausende im strömenden Regen, nur um ihn zu hören ...
Schmidt: Ossi - Wessi: Spielte das damals in der jungen Szene eine Rolle?
van Dyk: Absolut null. Es ging immer nur darum, ob du offen bist, tolerant und cool - und ob du mitfeiern willst.
Schmidt: Das war im Grunde die erste echte Wiedervereinigung.
van Dyk: Ja, auf den Dancefloors wurde die Wiedervereinigung zuerst vollzogen.
Schmidt: Ohne den Mauerfall wäre Techno nie so groß geworden.
van Dyk: Wahrscheinlich nicht. Im Osten hatte sich bei den Jungen eine ungeheure Energie aufgestaut, die sich jetzt entladen konnte.
Schmidt: Im Nachhinein sieht alles immer so logisch und natürlich aus, aber eigentlich konnte niemand ahnen, was für ein Riesending daraus werden würde, oder?
van Dyk: Deswegen hat es so viele verschreckt, als immer mehr dazustießen. Denn vielen ging es nicht um die Musik, sondern nur um ihr kleines Underground-Gefühl, ihre sogenannte Szene - und Coolness. Aber nur weil die elektronische Musik so vielen gefällt, konnte sie zur größten Jugendbewegung der Welt werden.
Schmidt: Früher hattest du kaum genug Geld für einen ordentlichen Plattenspieler, heute hast du mehr Flugmeilen als die meisten Lufthansa-Piloten ...
van Dyk: Dass ich damit Geld verdienen und um die Welt fliegen würde, das hätte ich nie zu träumen gewagt. Aber deswegen habe ich auch meine Charity-Organisation Rückenwind, die Berliner Kindern hilft. Die Arbeit ist mir sehr wichtig.
Schmidt: Du bist permanent unterwegs, immer nur für ein paar Stunden vor Ort - nervt das manchmal?
van Dyk: Bei all dem Stress, den das Reisen bedeuten kann: Das Gefühl, nachts mit vielen anderen etwas Einmaliges zu erleben - eine bessere Motivation gibt es nicht.
Schmidt: Was ist für dich ein guter Abend?
van Dyk: Wenn es mir gelingt, meine eigenen Vorstellungen von der Musik mit denen des Publikums so aufeinander abzustimmen, dass für beide Seiten was tolles Neues entsteht.
Schmidt: Die Techno-Szene galt als Synonym für Drogen jeder Art, für wildeste Exzesse, gerade auch bei den DJs.
van Dyk: Wie allgemein bekannt, bin ich dafür der falsche Ansprechpartner. Ich bin ein echter Musikfreak, alles, was von dem Genuss ablenkt, stört mich.
Schmidt: Aber Drogen waren für viele in der Szene wichtig.
van Dyk: Ja, für einige bestimmt. Aber dieser Aspekt hat mich nie interessiert.
Stimmt schon. Niemand paart seine Leidenschaft mit so einer Energie und Disziplin. Aber wer ihn mal beobachtet hat, wie er Tausende in Minuten in eine pumpende, schreiende, jubelnde Masse verwandelt, der ahnt: Es muss körpereigene Stoffe geben, die glücklicher machen als alles andere.
Schmidt: Kennst du Ostalgie?
van Dyk: Da dreht sich mir der Magen um. Die Verniedlichung der DDR, das Ausblenden der Tatsache, dass es ein Unrechts-system war, finde ich unmöglich.
Schmidt: Ist der 9. November für dich heute ein Feiertag?
van Dyk: Der 1. November, der Tag unserer Ausreise, ist wichtiger für mich.
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