"Mörderinnen sind auch nur Menschen"

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"Allein unter Frauen – ist doch ein Traumjob!" Diesen Spruch kann Tilmann Schäfer nicht mehr hören. Mehr als zwei Jahren war er als Arbeitstherapeut im Frauenknast – zusammen mit Junkies, Betrügerinnen und Mörderinnen. Ein Gespräch über Gewalt zwischen weiblichen Gefangenen, Sex in der Zelle und Frauen, die am ersten Tag in Freiheit wieder festgenommen werden

Herr Schäfer, was haben Sie im Frauenknast gelernt?
Dass Mörderinnen auch nur Menschen sind. Sie verstehen das erst, wenn eine vor Ihnen sitzt. Eine Frau, die eine wirklich zerstörerische Tat begangen hat. Und die dann in Tränen ausbricht, weil das Mittagessen nicht geschmeckt hat. Das können Sie sich am Anfang nicht vorstellen.

Sie waren über zwei Jahre als Arbeitstherapeut hinter Gittern. Was genau war Ihr Job?
Zu mir kamen Frauen, die psychisch labil oder schwierig im sozialen Umgang waren. Ich hatte mit Depressionen zu tun, mit Psychosen, mit Angst- und Panikattacken.

Also eine besonders schwierige Klientel?
Ja, das ist die Randgruppe der Randgruppe. Die schaffen es teils nicht, sich normal an einen Tisch zu setzen und die Zeitung zu lesen. Wenn sie überhaupt lesen können. Meine Aufgabe war es, diesen Leuten eine Tagesstruktur zu geben, stabilisierend zu wirken.

Wie haben Sie das geschafft?
Das fängt wirklich damit an, den Frauen beizubringen, pünktlich aufzustehen, sich die Zähne zu putzen und die Haare zu kämmen. Für einige Frauen ist es Schwerstarbeit, den Müll rauszubringen und Staub zu wischen. Der Begriff „Schmutz“ ist relativ. Sehr relativ, habe ich gelernt.

Diese Gefangenen müssen also die grundsätzlichsten Dinge lernen.
Ja. Meistens heißt es anfangs: „Ich kann nix.“ Die sitzen tage-, wenn nicht sogar wochenlang in der Arbeitstherapie und gucken einfach nur zu, wie die anderen malen oder töpfern. Denen muss man klar machen, dass man so was erlernen kann.

Und das klappt?
Mit der Zeit schon. Ich habe Jugendliche gesehen, die das erste Mal die Farbe Grün gemischt haben. Das war für die das Highlight der Woche. Ich hatte aber auch eine Gefangene, bei der ich nach drei Monaten abbrechen musste, das war selbst in Einzelbetreuung nicht hinzukriegen. Eigentlich eine ganz Liebe. Aber wenn man schon barfuß in die Therapie kommt und dann einen Riesenterz draus macht, wenn ich sage, das geht hier nicht ... Entweder man kapiert es irgendwann oder man lässt es.

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Tilmann Schäfer war rund zwei Jahre lang als Arbeitstherapeut im Frauengefängnis

Bei Ihnen hat aber auch eine Frau gearbeitet, die ihre Tochter umgebracht hatte und dann im Gefängnis entdeckte, dass sie ein großes Talent zum Malen hat.
Ja, die hat ein Können entwickelt, das war gigantisch. Sie hat sich aus Zeitschriften Fotos ausgeschnitten, skizziert, vorgemalt, gemacht und getan und das war am Schluss eins zu eins. Unglaublich.

Aber was bringt das?
Wie, was bringt das?

Dass diese Frau jetzt malen kann.
Sie hat entdeckt, dass sie was kann. Daraus kann sie Selbstbewusstsein schöpfen. Dadurch hat Sie die Kraft, besser zu leben. Das strahlt auf ihre Umgebung aus.

Sie ist aber doch ohnehin lebenslang im Gefängnis?
Auch diese Leute haben Talente. Sie ist lebenslänglich verurteilt, na gut. Aber was machen wir jetzt mit dieser Zeit? Diese Mörderin hat so gut gemalt, dass wir die Bilder verkaufen konnten. An Staatsanwälte zum Beispiel. Wenn so etwas passiert, dann summt die Arbeitstherapie wie ein Bienenstock. Wir sind im Knast, aber wir arbeiten an etwas. Es hat einen Sinn. Was aber besonders wichtig ist: Die Frau kann durch das Malen die Belastungen im Knastalltag besser ertragen und hat eine Tagesstruktur. Langfristig kann es dazu führen, dass sie fähig ist, in einem Knastbetrieb zu arbeiten.

Es gibt Leute, die sagen, den Gefangenen hier in Deutschland geht es eigentlich viel zu gut.
Die haben vom Gefängnis keine Ahnung. Ganz einfacher Versuch: Lassen Sie sich mal von jemandem in ein Zimmer einsperren. Zwei Stunden. Da werden Sie ungefähr merken, wie es ist, im Knast zu sein. Sie können fast nichts selbst entscheiden.

Wie schaut eine Gefängniszelle aus?
Sie haben ein Bett, einen Schrank, ein Regal, einen Tisch, einen Stuhl und eine Nasszelle. Wenn Sie es sich leisten können, stehen bei Ihnen noch ein Fernseher, ein CD-Spieler und ein paar Bücher. Vielleicht haben Sie noch was zum Schreiben. Zeitungen können Sie auf der Station lesen. Das war's.

Welche Stimmung herrscht im Gefängnis? Angst und Gewalt?
Sie müssen sich das wie eine ganz große Wohngemeinschaft vorstellen. Auf der einzelnen Station leben bis zu 28 Frauen zusammen. Die meisten haben Straßenerfahrung, viele sind drogenabhängig. Natürlich misstrauen die sich. Die gucken, wen sie wie benutzen können, um Vorteile zu erlangen. Lässt sich da eine unterdrücken? Kann ich sie emotional abhängig machen? Dass sie zum Beispiel meinen Haftraum putzt oder mir was von ihrem Tabak, ihrem Kaffee oder ihrem Essen abgibt?

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Eine Station, bis zu 28 Frauen, keine vertraut der anderen

Wer findet sich im Gefängnis am besten zurecht?
Es gibt keine spezielle Knastpersönlichkeit. Aber wer sich auf der Straße durchsetzen kann, setzt sich auch im Knast durch. Andere Frauen kompensieren Unerfahrenheit oder fehlende Aggressivität, indem sie sich sehr geschickt anpassen. Die schwimmen so mit, bleiben in ihrem Haftraum, lassen die Tür nicht immer offen und sind nie auffällig. Und es gibt noch eine dritte Kategorie: diejenigen, die wirklich Grips haben. Die setzen sich nicht durch, weil sie zuschlagen können, sondern weil sie genau wissen, wie sie reden müssen. Das sind meistens Betrügerinnen.

Gibt es hinter Gittern Freundschaften?
Es gibt Knastfreundschaften.

Das heißt?
Die sind meistens nicht von langer Dauer und gehen nicht unbedingt sehr tief. Das sind Zweckbündnisse.

In denen keine persönlichen Probleme besprochen werden?
Nur als Mittel zum Zweck. Etwa um zu sagen: „Mir geht's genauso schlecht wie dir.“ Um die andere an sich zu binden. Wenn eine früher rauskommt, dann schickt sie vielleicht ein paar Briefe, ruft sogar mal an, aber das war‘s dann.

Jede ist eine Einzelkämpferin.
Ja, das stimmt.

Wie häufig kommen Liebesbeziehungen unter Gefangenen vor?
Das ist die Ausnahme.

Solche Bedürfnisse bestehen aber doch, selbst wenn man nicht in Freiheit ist?
Natürlich, sicher. Aber Sie können sich damit angreifbar machen. Selbst wenn eine andere Frau vor ein paar Monaten auch eine Affäre hatte, das spielt keine Rolle mehr. Sie wird versuchen, Sie zu verletzen und zu zeigen, wer die Stärkere ist.

Ist Sex im Knast überhaupt erlaubt?
Klar, es sind ja erwachsene Menschen. Das können Sie gar nicht unterbinden. Manchmal gibt‘s auch Zellenbesuche: Wenn Frau X an Ostern bei Frau Y sein will, muss ein Antrag gestellt und geprüft werden. Wenn die beiden Glück haben, klappt’s.

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Liebe im Gefängnis? Eher die Ausnahme

Bilden sich auf dem Hof tatsächlich Gruppen nach Nationalitäten, wie man das aus Filmen kennt?
Vielleicht ein bisschen im Männerknast. Im Frauenknast gibt es eigentlich keine Gangs. Da gibt es höchstens die Frau X und die Frau Y, die einen auf dicke Hose machen. Aber klar, es kommt zu Schlägereien. Die Gewalt kann sich sehr plötzlich entfesseln.

Gibt es einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gefangenen?
Ja, Männer sind gewalttätiger. Das Klischee stimmt leider. Aber auch Frauen können ihre Opfer halbtot treten.

Wie oft kommt es vor, dass Bedienstete angegriffen werden?
Ganz pauschal? Ein- bis zweimal im Monat. Manchmal passiert aber auch gar nichts. Ich selbst hatte nie einen Alarmfall. Bei Frauen merkt man, dass es brenzlig wird, wenn geschimpft, rumgebrüllt und gekeift wird. Dann weiß man: Vorsicht! Bei Männern wird sofort geschlagen, bei Frauen wird davor noch gezickt.

Haben Sie Uniform getragen?
Ich persönlich war – anders als der Allgemeine Vollzugsdienst – zivil angezogen und hatte wie jeder einen Schlüsselbund, ein Funkgerät und ein Alarmgerät bei mir.

Sie waren also nicht bewaffnet. Hatten Sie keine Angst?
Nein. Vielleicht Respekt. Ich wusste, mit wem ich es zu tun hatte.

Man sieht den Frauen ja nicht an, ob sie gefährlich sind, oder?
Überhaupt nicht. Ein Beispiel: In der Nähe meines Knasts gibt‘s einen Supermarkt. Da habe ich nach dem Dienst immer eingekauft. Genau wie die Frauen aus dem offenen Vollzug, die ein paar Stunden Ausgang hatten. Manchmal dachte ich mir: Interessant, wer da vorne an der Kasse steht, da eine Betrügerin und da eine Mörderin. Und niemand außer mir weiß das.

Wie sind Sie diesen Menschen gegenübergetreten?
Ganz normal. Für mich war das Delikt nie entscheidend.

Sie haben mit Frauen gearbeitet haben, die ihre eigenen Kinder getötet haben. Das kann Sie doch nicht kalt lassen?
Wenn Sie die Akten lesen, ist das natürlich das blanke Grauen. Aber wenn diese Frauen bei Ihnen sitzen, sind das ganz normale Menschen. Die Ihnen davon erzählen, dass sie die Tat jede Nacht wieder erleben. Dass sie Medikamente bekommen, um einschlafen zu können.

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Eine Mörderin, Diebin oder Betrügerin? Das kann man Menschen nicht ansehen, sagt Tilmann Schäfer (Symbolbild)

Müssen Sie ein Verständnis für solche Menschen und ihre Taten entwickeln, um sie therapeutisch unterstützen zu können?
Da muss man ganz genau sein. Ich kann den Menschen nehmen wie er ist. Ich kann den Weg zur Tat bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen. Denn jede Straftat hat eine Geschichte. Niemand wacht morgens auf und fragt sich: Wen könnte ich denn heute umbringen? Das ist aber keine Rechtfertigung, das heißt nicht, dass ich die Tat für richtig halte. Trotzdem sage ich: Wir alle sind potentielle Mörder.

Weil jeder von uns in eine anscheinend ausweglose Situation kommen könnte?
Ja! Das muss natürlich nie passieren. Aber stellen Sie sich vor, Ihre Familie wird angegriffen. Da schauen Sie bestimmt nicht im Strafgesetzbuch nach. Sie werden sofort handeln. Und vielleicht machen Sie mehr, als zum Schutz Ihrer Familie nötig ist.

Sind manche Menschen nicht auch einfach böse?
Na, das ist so moralisch. Was ist gut und was ist böse? Das regelt letztendlich die Gesellschaft. Es gibt Gesetze, an die wir uns zu halten haben. Ich glaube, dass Menschen aufgrund von Erfahrungen handeln.

Was sind das für Erfahrungen, die ins Gefängnis führen?
Ich habe im Knast keine Frau erlebt, die nicht Opfer von Gewalt war. Wenn mir Frauen erzählen, wie sie über Jahrzehnte vom Ehemann unterdrückt und misshandelt wurden und irgendwann nicht mehr konnten... Die Tat ist verwerflich, darüber müssen wir nicht reden. Aber kann man sie nicht vielleicht auch verstehen?

Sie meinen, aus Opfern werden Täter?
Opfer müssen nicht, aber sie können zu Tätern werden. Auf jeden Fall hätten wir weniger Täter, wenn wir uns mehr um die Opfer kümmern würden. Bei Jugendlichen denke ich oft: Ja, verdammt noch mal, warum hat da niemand vorher eingegriffen? Wo war die Gesellschaft? Die Polizei und die Justiz kann das nicht regeln. Der Knast ist keine Klinik und keine Erziehungsanstalt. Da wird das Urteil vollstreckt, Punkt. Es ist ein Glück, dass es dort zumindest ein bisschen Therapie gibt.

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Einbahnstraße in die kriminelle Karriere? Tilmann Schäfer fordert mehr Therapie

Brauchen wir überhaupt Gefängnisse? Manche sehen das ja kritisch.
Das ist eine philosophische Frage. Ich halte Freiheitsentzug als Strafe für richtig. Es nützt aber nichts, die Leute einfach wegzuschließen und nach Verbüßung der Straftat wieder rauszulassen. Ich kannte eine Frau, die war drei Jahre im Knast. Am ersten Abend in Freiheit hat sie versucht, einen Freier abzuziehen, die kam postwendend zurück in den Knast. Was haben da die drei Jahre gebracht? Nichts! Der Strafvollzug in Deutschland ist gewiss nicht schlecht, aber wir brauchen mehr therapeutische Möglichkeiten.

Wie schwer haben es Gefangene generell, nach Ihrer Entlassung ins normale Leben zu finden?
Sehr, sehr schwer, vor allem beruflich.

Das hängt vielleicht auch von der Schwere der Straftat ab, oder?
Klar. Ein paar Monate im Knast kann man irgendwie überspielen. Aber bei einer Mörderin findet der Arbeitgeber das natürlich raus. Wenn die um die Ecke kommt und im Laden Klamotten verkaufen will, sagen viele: Nö. Wir sind zwar alle irgendwie dafür, ehemalige Straftäter wieder einzugliedern. Aber bitte nicht bei mir in der Nähe.

Wie schwierig war es für Sie, gegenüber den Gefangenen eine professionelle Distanz zu wahren?
Überhaupt nicht. Wenn ich aus der Justizvollzugsanstalt rausgegangen bin, habe ich meinen Schlüssel abgegeben und damit auch alles andere. Das habe ich mir antrainiert, eine Art Ritual. Ich muss diese Schicksale nicht nach Hause mitnehmen.

Tilmann Schäfer ist Autor des Buchs "Knastfrauen", das bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen ist, 9,99 Euro.