"Der Mann leidet mehr als früher. Und zwar unter Bedeutungsverlust"

Credit: Playboy Deutschland

Das Interview erschien erstmals in Playboy Ausgabe 04/2010

Peter Sloterdijk, pardon: Prof. Dr. Peter Sloterdijk, ist der FC Bayern München unter Deutschlands Denkern: Selten zu schlagen, nicht ganz frei von Seblstbewusstsein und und wegen seiner Erfolge von vielen beneidet. Wir sprachen mit ihm über die Unmännlichkeit des Herumstehens, über Muskelschwule – Und darüber, wie es ist, wenn man in Sachen Sex ein Depp ist

 

Das Restaurant, das sich Peter Sloterdijk ausgesucht hat, ist nicht wirklich eine Pommesbude: ein Stern, Küchengrüße noch und nöcher, für die Weinkarte sollte man vorher besser den Kreditkartenrahmen erhöhen lassen. Sloterdijk hat einen anstrengenden Tag hinter sich: Derrida-Seminar und ein bisschen am neuen Buch geschrieben. Sloterdijk und sein Schnauzbart nehmen Platz unter einer abenteuerlichen Deckenbemalung, über beiden – ausgerechnet – die Darstellung eines Unzivilisierten, eines Indianers. Er hat gerade auf „heute“ gesehen, wie Bundeskanzlerin Merkel, der einzige echte Kerl in der Regierung, die parteiinternen Kritiker abwatscht. Was bietet sich zum Gesprächseinstieg an? Richtig, das Thema Männer

 

Herr Professor Sloterdijk, der deutsche Mann 2010 – wie geht es dem?

Das weiß ich nicht, ich kenne ihn ja nicht. Er ist ein statistisches Phantom, dem man im Leben nicht begegnet. Die Soziologen sagen, er leidet mehr als früher.

Woran leidet er denn?

Unter Bedeutungsverlust. Wir Männer waren ja meistens bedeutungslos, haben aber nicht darunter gelitten. Jetzt wird die Zumutung, bedeutend zu sein, viel stärker an einen herangetragen. Folglich fällt es stärker auf, wenn man der Erwartung nicht genügt.

Welche Aspekte sind es sonst, die heute an Männern neu zu Tage treten?

Männer werden seit den siebziger, achtziger Jahren als Kunden entdeckt, sie bilden neuerdings eine Klientel für luxuriöse Selbstsorge. Das ist ein riesenhafter Markt, es öffnet sich ein Fass ohne Boden, sobald die Kerle auf ihr Äußeres achten. Früher brauchte man höchstens einen Uniformschneider, das war es dann auch schon. Jetzt ist eine ganze Industrie aufgestellt, um die Nachfrage nach Männlichkeits-Accessoires zu befriedigen.

Ein zivilisatorischer Fortschritt?

Wie man’s nimmt. Mein Großvater hätte es für Dekadenz gehalten, wenn Männer über den Gebrauch des Rasierwassers hinaus irgendetwas Parfümiertes an ihren gestählten Leib heranlassen. Er hätte Sodom und Gomorrha gerufen. Heute ist das ganz normal.

Sind Sie denn Kunde?

Wie, Kunde?

Na, in Bezug auf diese männlichen Verwöhnprogramme.

Eine Freundin hat mir vor Jahren einen Schal geschenkt, nachdem sie mich bei einer Lesung mit einem profanen roten Schal hatte auftreten sehen, der ihren Ansprüchen nicht genügte. Sie kam dann mit einem Prachtstück, innen Kaschmir, außen feinste Seide, mit aristokratischen Arabesken. Ein Jahr lang gehörte ich dank dieses Objekts zur Kategorie der Gutangezogenen, dann habe ich es im Gepäckfach eines Flugzeugs vergessen – nachgeschickt werden solche Dinge ja nicht. Daraufhin bin ich tapfer in ein Geschäft gegangen und habe versucht, mir den gleichen wieder zu kaufen. Das war wohl der Höhepunkt meiner aktiven Kundenbiografie. Der Philosoph trägt keineswegs, wie vielleicht zu erwarten wäre, ein blind von der Stange gegriffenes senfgelb-grün-kariertes C&ASakko. Sondern schwarz, komplett schwarz: Hose, Hemd, Jackett. Der Denker-Dress.

In Ihrem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ fordern Sie, der Mensch müsse mehr üben. Und zwar in allen Bereichen seines Lebens. Wie also übt man Mannsein?

Vorsicht: Ich fordere nicht, ich stelle fest: Höhere Kulturen sind Übungskulturen. Die Griechen sprachen von „Mannhaftigkeit“, andreia, wenn sie den Komplex aus Mut und Belastbarkeit bezeichnen wollten, dies war für sie die entscheidende Tugend. Die Alten haben Tugend immer als Können verstanden, wir würden das heute Fitness nennen. Diese hängt tatsächlich von der Übung ab, besser gesagt, vom Training. Ursprünglich kommt der Ausdruck Training aus der Pferdedressur, und das macht vollkommen Sinn, denn wer trainiert, will bei sich selbst in den Sattel kommen. Fast immer fängt das mit einer Art von unglücklichem Bewusstsein an. In den Fitnesscentern sieht man diese Wahrheit mit bloßem Auge – da trifft man Leute, denen man anmerkt, dass sie unglücklich verliebt sind. Bei den „Muskelschwulen“ fällt das ganz besonders auf. Meistens wird Narzissmus ja als glückliche Liebe zu sich selbst missverstanden. Doch erfüllte Liebe zu sich, wo gibt es sie wirklich? Wenn man schon in sich selbst verliebt ist, dann unglücklich.

Weil sie nicht erwidert wird

Wie denn auch? Die meisten Menschen gefallen sich nicht so besonders, und man kann sie gut verstehen. Die Klügeren lassen deswegen die Finger von einer Affäre mit sich selbst. Aber wie gesagt, man sieht im Fitnessstudio tragische Beispiele dafür, dass einer es ernsthaft mit sich probiert. In meinem Karlsruher Center läuft ein viriler Riese herum, mit so ausgearbeiteten Brustmuskeln, dass er die Arme nur rudernd am Oberkörper vorbeibringt, Piercing-Ringe an seltsamen Orten und im Gesicht den Ausdruck eines Vierjährigen, der gleich weinen wird.

Aber wie muss sich ein Mann heute verhalten, um als Mann gelten zu können?

Männlichkeit liegt vor, sobald man von jemandem denkt: Das ist jemand, der keine Ausreden gebrauchen wird. Das wäre meine Definition für andreia heute. Darüber hinaus würde es nicht schaden, wenn jemand sich als Könner konstituiert. Von Männern erwartet man, dass sie Nicht-Nullen sind.

Woran liegt es eigentlich, dass der Mann aus allem einen Wettbewerb macht und in Konkurrenz zu den anderen tritt?

Das ist unser griechisches Erbe. Das Griechentum hat eine Lebensregel hervorgebracht, auf die wir uns nach wie vor beziehen, obschon sie von den feministischen, sozialistischen, anarchistischen und künstlerischen Diskursen unserer Zeit nicht mehr unterstützt wird, und die lautet: aei aristeuein – immer der Beste sein.

Woher kommt dieses Prinzip?

Die Regel „der Beste sein“ funktioniert nur, wenn sie als unhinterfragbare Instanz gilt. Für die Griechen war evident, dass freie Männer sich daran halten. Wer das Spiel nicht spielen wollte, war entweder ein Metöke, ein Zugereister ohne Ambition, oder ein Unfreier, ein Sklave. In der Moderne streben sehr viele danach, ein Leben außer Konkurrenz zu führen. Tatsächlich hat die Männlichkeitskultur unserer Tage viel zu bieten für den Typus, den Nietzsche den zufriedenen Sklaven genannt hätte. Aber sie hat auch enorme neue Optionen für Wettbewerbsmänner geschaffen.

Was sind denn die Gebiete, auf denen Sie der Beste sein wollen?

Ich mache meine Arbeit, das ist alles. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

Der beste Suhrkamp-Autor sein? Der bestverkaufte Philosoph? Geht es Ihnen darum?

Ich stehe nur im Wettbewerb mit meinen eigenen Maßstäben. Nach außen konkurriere ich nicht.

Weil Sie keine Gegner haben oder weil Sie sich keine Gegner suchen?

Ich habe Gegner, aber ich konkurriere nicht mit ihnen. Im Übrigen gehören Philosophen zu der merkwürdigen Kaste von Menschen, die ihre Streitgespräche zum größeren Teil mit den Toten führen. Alle ernst zu nehmenden Fachkollegen haben einen Plato-Komplex oder einen Aristoteles-Komplex, einen Hegel-Komplex usw. Sie beziehen sich auf Autoren, die zwischen 2000 und 200 Jahre tot sind. Ich selber habe einen etwas jüngeren Partner im Jenseits, Nietzsche, und der ist im August des Jahres 1900 verstorben. Die Klassiker sind die Einzigen, mit denen man wirklich im Wettbewerb steht. Oder haben Sie einen besseren Einfall, wen ich mir unter den Lebenden aussuchen sollte?

Nee, wir wollen Ihnen da keinen antragen . . .

Wie gesagt, das Mia-san-mia-Gefühl eines FC Bayern München – man kann es bei Sloterdijk wiederfinden. Mögen all die Axel Honneths und Jürgen Habermas’ dieses Landes ihre Fankurven in den linksliberalen Feuilletons haben: Werder Bremen oder der HSV landet halt auch nur alle paar Jahre einen Glückstreffer und wird Zufallsmeister. Bis dann wieder die Bayern von ihrem Meister-Abo Gebrauch machen. Und darüber klagen, dass ihnen auf nationaler Ebene ein würdiger Gegner fehlt. Der Kellner trägt Zitronensorbet auf.

Wir haben über Konkurrenz gesprochen und über den Körper. Da sollten wir über den Sport sprechen, gerade in einem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft...

Wann ist das genau?

6. Juni bis 6. Juli.

Dann muss man wohl das eine oder andere Seminar absagen.

Ihretwegen oder der Studenten wegen?

Vor allem wegen der Sportbegeisterten im Kollegium. Bei der letzten Weltmeisterschaft bin ich mit Professoren vor dem Fernseher gesessen und habe einige Spiele angesehen – es waren schöne Momente dabei.

Was war der schönste für Sie?

Ich erinnere mich nur an einen bewegenden Augenblick: Ich fuhr mit dem Auto nach Südfrankreich, während ein Spiel Deutschland gegen ich weiß nicht wen im Radio übertragen wurde. Zwischen Mulhouse und Lyon wurde der Empfang immer schlechter. Beim aktuellen Spielstand kam es darauf an, dass die deutsche Mannschaft ein zweites Tor machte – und wie durch ein Wunder fiel dieses tatsächlich, gleich danach verschwand der Sender. Ich erinnere mich noch, wie ich euphorisiert das Rhônetal hinuntergesaust bin.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie besondere Freude haben an Spielern, die hinfallen und gleich wieder aufstehen...

Diese Aufsteh-Artistik der Fußballer ist für mich wie eine Definition von unangreifbarer Jugend: Die Kerle rennen wie außer sich nach dem Ball, werden gefoult, fallen auf die Schnauze und sind fünf Sekunden später wieder auf den Beinen. Das ist wie eine gute Nachricht aus der Welt eines Körpers, der noch völlig intakt ist. Schlimm ist es, wenn sie länger liegen bleiben. Dann findet das Wunder nicht statt.

Dann entpuppt sich der Held als normaler Mensch.

Genau genommen, ist der Held erst am Ziel, wenn er tot hinausgetragen wird. Aber mir geht es vor allem um die akrobatische Komponente, denn Fußball ist ja eigentlich eine Ballakrobatik in der Gruppe. Kein normaler Mensch würde einen Ball mit dem Fuß spielen, denn Bälle verlangen fürs Erste nach der Hand. Aber die Pointe beim Fußball besteht darin, das Natürliche zu verbieten und das Unwahrscheinliche zur Norm zu machen. Darum regt man sich im Stadion über nichts so sehr auf wie über Handspiel: Man will den permanenten Sieg über die Wahrscheinlichkeit.

Warum sind wir dann so bestürzt, wenn bei einem Helden die Maske fällt, wenn er sich, wie Sebastian Deisler oder Robert Enke, als Mensch entpuppt?

Solche scheinbaren Wiedervermenschlichungen im Sport sind große Heucheleien, sie laufen auf ein perfides Doppelprogramm hinaus: Die Zuschauer selbst wollen an erster Stelle die Show. Spielt sich aber gelegentlich ein menschliches Drama ab, nehmen sie auch das noch mit. Einmal bezahlen, zweimal genießen: Die Psyche des Sportlers als kostenlose Sonderbeilage. Ich empfand die Berichterstattung über den toten Torwart von Anfang an als eine Art von emotionaler Ausbeutung.

Sie nehmen dem Land die Trauer nicht ab?

Nein. Trauer ist eine Reaktion auf einen Verlust. Aber all die Leute, die plötzlich über den Selbstmord eines Sportlers zu trauern vorgaben, genossen in Wahrheit die Gelegenheit, sich selbst zu bedauern.

Sie bedauern sich auf Grund ihrer Sterblichkeit?

Auch deswegen. Vielleicht hat der Vorfall gezeigt, dass es zwei Arten von Verlierern gibt: Verlierer der ersten Ordnung verlieren das Spiel und hoffen, das nächste zu gewinnen. Verlierer zweiter Ordnung fallen aus dem System heraus und können nicht mehr zum Rückspiel antreten. Die Niederlagen der zweiten Art haben eine gefährliche Seite, weil sie ungeheuer infektiös sind. Viele Menschen, die sich auch irgendwie gefährdet fühlen, protestieren bei diesen Gelegenheiten gegen etwas, das sie die Unmenschlichkeit des Sports oder des „Systems“ nennen.

Ist Leistungssport unmenschlich?

Im Gegenteil, er gehört zum Menschlichsten, was wir in der heutigen Zivilisation haben. Im Sport wird die griechische Komponente in uns, die oben erwähnte Neigung zum aei aristeuein ausgedrückt. Es gibt in uns natürliche Stressprogramme, die hin und wieder aktiviert werden wollen. Bekanntlich sind Menschen ebenso Konfliktvermeider wie Konfliktsucher, sie wollen den Frieden – und können ihn nicht ertragen. Unser angeborenes Stresssystem hilft uns, bei Gefahr für Leib und Leben das Richtige zu tun: Wir antworten darauf mit umfassender Mobilisierung aller Energien. Gefahr und Höchstform gehören zusammen. Es hat den Anschein, als ob dieses innere System hin und wieder laufen will. Der Sport könnte als rituelle Aktivierung der Stressprogramme gedeutet werden. Dann wäre er eine Art von physiologischem Humanismus, er erlaubt die kultivierende Annäherung an Grenzsituationen.

Der Kaffee ist getrunken. Darf’s noch was sein?, fragt der Herr des Hauses. Darf es, findet der Philosoph. Ihm ist nach einem Cognac, was Leckerem – und er bekommt einen Tropfen aus den 30ern serviert. Goldfarben im Glas, ein Geruch nach Beeren, Sloterdijk kommt ins Schwärmen. Ein Kostverächter fleischlicher Genüsse ist er nicht. Allerhöchste Zeit, mit diesem lebenslustigen Fast-Siebzigjährigen Oberdenker Tacheles zu reden!

Sie sprachen von der Rebellion gegen das System: Lebten Sie deshalb in den siebziger Jahren in einem Ashram in Indien?

Ich war in Indien, aber nur im Umfeld des Ashrams.

Warum?

Meine ganze Umgebung war dort.

Dann würden wir von einem Querdenker wie Peter Sloterdijk erwarten, dass er so was gerade nicht macht!

Doch, doch, Rebellion ist ein Gruppenphänomen, und damals stand der Zeiger der Uhr auf Selbsterfahrung, see me, feel me, touch me, heal me. Dies fand naturgemäß im Rudel statt. Diese Dinge haben Sie wahrscheinlich auf Grund von altersbedingter Verspätung nicht mehr erlebt.

Leider. Wir stellen uns das sehr romantisch-frivol vor.

Das war es. Man dachte seinerzeit, Revolution und Sexualität seien Reimwörter in einer fremden Sprache – die wollten wir unbedingt lernen. Das ist heute so weit weg wie das 13. Jahrhundert.

Was haben Sie daraus mitgenommen?

Ich war ein Depp auf dem Gebiet und langsam von Begriff. Aber mit der Zeit habe ich halbwegs Tritt gefasst...

Wie ist denn Ihre Ausstrahlung auf Frauen?

Ich fing als Parzival an. Nur durch aktive Gegendemonstrationen wurde ich davon überzeugt, dass es mit Neutralität allein nicht getan ist.

Die Frauen mussten Sie überzeugen?

Frauen sind sehr überzeugend, wenn sie dem Kontrahenten den Rückzug abschneiden. Dabei entsteht eine Konfliktlage, die auch einen eher beobachtenden Menschen wie mich involvieren kann. Philosophisch gesprochen: Erotische Erlebnisse bilden eine eigene Klasse von Evidenz.

Was für Erlebnisse meinen Sie da?

Na ja, ich denke an die Momente, wenn das Christkind wirklich kommt. Oft wird nur geklingelt, und es kommt nicht.

Kann man denn auch die Sexualität lernen? Kann man sie – um in Ihrer Terminologie zu bleiben – üben?

Sie kennen sicher die bekannte Höreranfrage an Radio Eriwan: „Ist Sexualität schweinisch?“ Antwort: „Im Prinzip ja, aber nur, wenn es richtig gemacht wird.“ Bei dem Ausdruck „richtig gemacht“ wird der Begriff Übung ganz ernst.