Playboy: Herr Schätzing, stimmt es, dass Sie mit 15 eigentlich Gitarrengott werden wollten?
Frank Schätzing: Zur Apotheose fehlte mir die Geduld, täglich zu üben. Aber nur so schaffst du es zum Virtuosen. Dafür stellte ich fest, dass ich Songs schreiben konnte.
Für Ihr erstes Album war Ihnen besonders wichtig, Keyboard und Bass mit Frauen zu besetzen. Warum?
Na ja – warum haben wir uns von Baumbewohnern zur zivilisierten Spezies entwickelt? Weil Frauen und Männer ein Dream Team sind. Wir sind die zwei Hirnhälften des Fortschritts.
Es gibt auch großartige Männer-Bands ...
Ohne Zweifel. Aber in den vergangenen Jahren kam die interessantere Musik vielfach von Frauen. Kate Bush und Björk haben das Feld bestellt und den kompletten Pop umgekrempelt. Heute bilden Anna Calvi, St. Vincent, Janelle Monae oder Billie Eilish die Avantgarde.
Verstehen Sie Musik als etwas Politisches?
Nicht zwingend. Erst mal genieße es, mich in einer Sprache ausdrücken zu können, die keiner Worte bedarf. Die Texte entstehen ungeordnet, aus gedanklichem Treibgut. Mitunter weiß ich selber nicht genau, worüber ich da singe. Ich will ja niemanden belehren. Kunst ist kein Klassenzimmer, sondern Denk-Doping.
Der erste Song Ihres Albums handelt von jemandem, der sich in eine Nachrichtensprecherin verliebt ...
Und so angefixt ist von ihr, dass er jeden Abend sabbernd vor dem Fernseher sitzt und sich daran aufgeilt, wie sie schlechte Nachrichten verliest. Ein Kommentar zur Entertainisierung von allem. Lustig und sarkastisch.
Wollen sie kritisieren, dass schlechte Nachrichten heute der Unterhaltung dienen?
Ich stelle es fest. Warum besteht der Nachrichtenblock zu 90 Prozent aus Bad News? Das ist in keiner Weise deckungsgleich mit unserer täglichen Lebenserfahrung.
Vermutlich genau darum. Auch Bücher, in denen zum Beispiel Roboter Jagd auf Menschen machen, funktionieren doch ähnlich. Ein Stoff wird ja oft erst durch die Gefahr spannend.
Nur gibt es einen Unterschied zwischen dem realen und dem fiktionalen Desaster. Ersteres ist immer tragisch, und entsprechend bedenklich ist die mediale Abstumpfung. Im Thriller treten die Kräfte des Guten und des Bösen zur erfundenen Klopperei an. Da geht es, wie Sie sagen, um das gemeinsame Meistern von Gefahren. Die Bösewichter sollen charismatisch sein, wir mögen sie bewundern, fiebern aber mit, dass das Gute obsiegt.
Viele Menschen identifizieren sich aber gerade anscheinend lieber über negative, hasserfüllte Kommentare.
Der Punkt ist, sie hassen ihre Zielobjekte oft gar nicht. Sie hassen sich selbst. Sie sehen sich als Loser und projizieren diese Wut auf andere. Hater beziehen ihr Selbstbewusstsein daraus, andere zu erniedrigen. Lady Gaga hat dazu treffend angemerkt, die sozialen Medien seien die Kloake des Internets. Stimmt. Aber Shitstorms, also mit Scheiße zu schmeißen, scheint vielen die attraktivste Option.
Weil sie sich so als Teil einer großen Gemeinschaft fühlen können?
Und weil sie etwas bewirken. Und sei es, Menschen zu zerstören. – Ein anderer Song handelt von der Einsamkeit im virtuellen Zeitalter, eine Comedy-Nummer im Big Band-Gewand. Neben mir in meinem Stammcafé saß ein Pärchen. Beide gutaussehend, Anfang zwanzig. Sie schlürften ihre Cappuccinos und schienen nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen. Bis einer von ihnen auf die Idee kam, die Handys rauszuholen. Erst als sie begannen, darüber Nachrichten auszutauschen, hatten sie plötzlich Spaß.
Würden Sie sagen, uns geht ein bisschen die Körperlichkeit verloren durch die technologischen Möglichkeiten?
Zum einen sind die neuen Technologien faszinierend, denn sie verbinden die Welt. Zugleich geht die Wertschätzung des Moments im analogen Hier und Jetzt verloren. Dein Essen zu fotografieren und zu posten ist wichtiger, als wie es schmeckt. Ständig bewerten wir uns, aber was wir da bewerten, sind nicht wir, sondern unsere virtuellen Inszenierungen, unsere Avatare. Das führt zu einem nie zu stillenden Selbstoptimierungshunger. Weil es immer jemanden gibt, der sich noch toller in Szene setzt, das coolere Makeup aufgelegt, das coolere Urlaubsfoto hat, im cooleren Restaurant war. Die Wertschätzung der eigenen Person stürzt auf Null. Man empfindet sich nur noch als defizitär.
Sie haben mal gesagt, dass Kunst aus Leid, Lust, Empathie und Wahnsinn erwächst. Welche Gefühle liegen Ihren Songs zugrunde?
Alle. Aber das ist unwichtig. Es kommt darauf an, was Sie als Hörer empfinden.
Aber es ist ja trotzdem interessant, aus welcher Situation heraus Ihre Stücke entstehen.
Stimmt auch wieder. Also, viele Songs entstehen beim Bücherschreiben. So ein Buch ist ja eine elend lange Angelegenheit. Wann immer ich merke, ich fresse mich fest, erhole ich mich an der Gitarre.
Sie erholen sich durchs Songs-Schreiben vom Bücher-Schreiben?
Genau. Ich wechsele von Worten zu Klängen. Reine Musik, sehr wohltuend. Die Lyrics kommen immer erst zum Schluss. Bis auf „Trains“. Als „Der Schwarm“ 2004 durch die Decke ging, hatte ich mehr als hundert Auftritte am Stück. Ich saß unentwegt in Zügen. Bühnen, Städte, alles schien flüchtig, illusionär, nur die Züge bildeten eine alptraumhafte Konstante. Als säße man in einem dahinrasenden Hotel California. Eines Nachts im Speisewagen fasste ich diese Eindrücke in Worte, Jahre später schrieb ich die Musik dazu. Meine Frau liebte den Song. Sie sagte: Mach endlich dein Album!
Das Album geht stilistisch ziemlich in die Breite. Mal rockig, mal bluesig, mal jazzig, dann kommen Elektro- und Avantgarde-Elemente ...
Ich kenne keine inneren Türsteher. Sonst hätte ich andere Bücher geschrieben. Mir beizeiten einen Kommissar zugelegt und bis ans Ende meiner Tage von Fall zu Fall gehetzt. Stattdessen wechsele ich von Buch zu Buch das Genre und mixe in meinen Songs alle Stile. Ich liebe die Vielfalt, das Überraschende, Unausrechenbare. Wenn Sie meinen Plattenschrank gesehen hätten vor 40 Jahren, dann hätten Sie festgestellt, dass da schon alles drin stand. – Okay, bis auf Schlager.
Als 17-Jähriger sollen Sie allerdings mal versucht haben, auf der Straße Heino-Kassetten zu verkaufen.
Ja, das stimmt. (lacht) Ich war jung und brauchte das Geld. Ein Sommerjob. Nicht unbedingt ein Meilenstein in meiner Vita.
Ist denn jetzt eine Tour geplant?
Ein paar Gigs. Mal schauen, wohin sich das alles entwickelt. Kann ja auch sein, dass meine Musik niemanden interessiert.
Wie ist es, so ins Ungewisse zu starten?
Super! Ich hab das mein Leben lang gemacht. Es gibt ja den klassischen Masterplan: Schule, Abi, geregeltes Berufsleben – du marschierst eine Hauptstraße entlang, und sie ist schnurgerade. Da, dein erstes Auto! Dort, die erste Wohnung. Hochzeit, Beförderung, Kinder, Einfamilienhaus, Midlife-Crisis, Enkel. Alles ist vorgezeichnet. Selbst den Typen, der Dir zur Pensionierung die goldene Uhr schenkt, kannst du weit hinten schon sehen, und ganz am Ende die Kiste, in die du kriechen wirst. - Beginnst du hingegen etwas völlig Neues, bist du plötzlich wieder 18, und alles ist möglich. Ich bin immer lieber den Lockrufen aus den Seitenstraßen gefolgt. Jeder Vorstoß ins Unwägbare ist wie eine Frischzellenkur.
Dafür braucht man Mut.
Sagen wir mal so: Wenn du wirklich kreativ sein willst, dann musst du von Herzen bereit sein zu scheitern.
Sie als Bestseller-Autor fallen beim Scheitern natürlich recht weich.
Komisch, das höre ich ständig. Als sei ich mein Leben lang Bestseller-Autor gewesen. Fürs Protokoll: Meinen ersten Bestseller hatte ich 2004. Ich lebe aber schon 62 Jahre auf diesem Planeten. In der Zeit ist vieles gelungen, etliches schiefgegangen. Den „Schwarm“ habe ich nachts geschrieben, als ich pleite war. Anderthalb Jahre Arbeit ohne Gewähr, dass sich ein Mensch für das Buch interessieren würde. Tagsüber versuchten mein Partner und ich, unsere konjunkturgebeutelte Werbeagentur zu retten. Wäre der „Schwarm“ gefloppt, wär’s das gewesen. Noch mal hätte ich der Doppelbelastung nicht standgehalten. – Ach ja, mein erster veröffentlichter Roman ist auf 50 Absageschreiben gebettet. So viel zum weich Fallen. Aber ich würde alles wieder genauso machen.
Fühlen Sie sich heute immer noch als Scheiternder?
Himmel, nein! Privilegiert! Und was heißt schon scheitern? Doch nur, dass du was ausprobiert hast. 2017 war ich einen Monat im Silicon Valley. Wenn Deutsche dort erzählen, sie wären noch nie gescheitert, verlieren die augenblicklich das Interesse. Dann hast du offenkundig noch nie was riskiert.
Wie wird man kreativ?
Tja – keine Ahnung. Durch Loslassen, denke ich. Ich entrümpele ständig meinen Kopf. Man muss sich von Vorurteilen, Denkmodellen, Konstruktionen befreien. Die Buddhisten sagen: „Aus der Leere entsteht die Fülle“. Je erwartungsloser ich durch die Welt gehe, desto kreativer bin ich. Wer gar nichts mehr will, wird alles bekommen.
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