Es gibt Diagnosen, die sind einfach nur eines: niederschmetternd. Oktober 2021: Die Weltklasse-Schwimmerin Elena Semechin plagen heftige Kopfschmerzen und plötzliche Schwindelattacken. Die 27-Jährige geht zum Arzt, lässt ihren Kopf durchleuchten und erhält einen erschütternden Befund: In ihrer linken Gehirnhälfte wächst ein Tumor. Ein bösartiger dazu, wie sich wenige Tage später herausstellt.
Nicht mal sechs Wochen zuvor scheint bei der gebürtigen Kasachin die Welt mehr als in Ordnung: Am 1. September 2021 schwimmt die Wahl-Berlinerin für den Deutschen Schwimmverband zu paralympischem Gold über 100 Meter Brust. Nach zwei Weltmeistertiteln (2013 und 2019) ist die Goldmedaille in Tokio der Karrierehöhepunkt für die Spitzensportlerin, die seit ihrem siebten Lebensjahr unter dem sogenannten Morbus-Stargardt-Syndrom leidet, einer Augenkrankheit, die zur fast vollständigen Erblindung führt. Einen anderen unvergesslichen Moment schenkte sich Elena Krawzow (so lautet ihr Geburtsname) ein Jahr zuvor: Da lächelt die sympathische Athletin von der Titelseite der Playboy-Oktoberausgabe 2020.
Am 16. Oktober 2021 dann der Schock: „Dass mich ein Besuch beim Arzt so aus dem Leben reißt, hätte ich nie gedacht“, teilt die Gold-Schwimmerin über ihre Social-Media-Kanäle mit. Anfang November wird der kirschgroße Tumor in der Berliner Charité aus ihrem Kopf entfernt. Wenig später die nächste Hiobsbotschaft: Der Krebs ist noch da, eine Bestrahlungstherapie deshalb unvermeidlich. Aufgeben? Das kommt für Elena nicht in Frage Also erfüllt sich die schwerkranke Para-Schwimmerin zwei Tage vor der OP einen langgehegten Traum: Sie heiratet ihren Lebenspartner und Trainer Phillip. Und nennt sich fortan Semechin.
„Ich möchte zeigen, dass ich nicht tot bin.“
Elena wird klar: Der Krebs ist von nun an immer bei ihr. „Der schlimmste Satz vom Arzt war: ‚Heilbar ist die Krankheit nicht, die wird Sie ein Leben lang begleiten.‘ Da realisierte ich zum ersten Mal, wie scheiße das ist.“ So ist die nun mehrmals wöchentlich stattfindende Bestrahlung nur der Anfang einer langwierigen Therapie. Seit Februar soll auch eine Chemo helfen, den Tumor zu besiegen. Alle vier Wochen beginnt dabei ein neuer Behandlungs-Zyklus, drei Tage lang wälzt sich die Patientin von Schmerzen gepeinigt in Embryohaltung auf ihrer Couch. Jeden Monat aufs Neue. Die Chemotherapie soll noch bis Februar 2023 dauern. Mindestens.
Das Ende einer großen Sportlerkarriere? Nicht für Elena. Zwischen Chemokeule und Bestrahlung steigt die erfolgshungrige Schwimmerin ins Becken – und trainiert. Hart. Unerbittlich. Ihr Ziel: Die Para-Schwimm-Weltmeisterschaften 2022 auf der portugiesischen Insel Madeira. Verrückt? Irre? Utopisch? Sie gibt darauf ihre eigene Antwort: „Ich möchte zeigen, dass ich nicht tot bin.“
Am 13. Juni 2022 – also vor zwei Tagen – schwimmt Elena Semechin bei der WM sensationell zu Silber. Und muss sich dabei der siegreichen US-Amerikanerin Colleen Young nur um 0,02 Sekunden geschlagen geben. Zwei Hundertstel – ein Wimpernschlag. Die Schlagzeile geht um die Welt: Mit Chemo zu WM-Silber. Eine unglaubliche Leistung. Für die Schwimmerin, die nur noch zwei Prozent Sehfähigkeit hat, ist dieses Silber mehr wert als ihr Paralympics-Gold von Tokio: „Allein wegen meiner Lebensumstände war es der größte Erfolg in meinem Leben. Es war ein Zeichen, dass ich die Zügel selbst in der Hand habe über mein Leben und nicht der Krebs.“
Der Mut und der Kampfgeist von Elena Semechin sind beispiellos. Ihre Zuversicht, ihr unbändiger Wille und ihr Glaube an sich selbst sind Inspiration, Motivation und Appell zugleich.
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