Ein Kommentar von Frank Joericke
Neun Euro und neunundsechzig Cent. Hand aufs Herz: Würden Sie so viel Geld für ein einziges Lied ausgeben? Die Menschen im Jahr 1972 taten es. Sie bezahlten 6 DM für einen einzigen Song (denn die B-Seite einer Single interessierte niemanden), und das sind bei heutiger Kaufkraft 9,69 Euro.
Ein stolzer Betrag für drei Minuten Töne. Da mussten junge Musikfans genau überlegen, für welchen Song sie sich entschieden. Denn Taschengeld, Lehrlingsgehalt oder Bafög reichten nicht aus zum Aufbau einer breit gefächerten Sammlung. Zumal die Entscheidung für Musik en masse eine Entscheidung gegen viele alkoholhaltige Getränke, Mode und Freizeitaktivitäten war. Gab man die sechs Mark für eine Single aus oder lieber für einen Kinoabend mit zwei großen Bier hinterher?
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Noch drastischer fiel die Rechnung bei der Langspielplatte aus. Für 18 Mark konnte man alternativ auch in der Disco einen Abend lang den großen Zampano raushängen lassen, in der Hoffnung, dadurch das Objekt der Begierde zu sexuellen Handlungen zu verleiten. So wurde, wenn alles gut lief, der Verzicht auf die LP damit belohnt, dass man danach nicht mehr Single war. Und wenn man leer ausging, erinnerte man sich an John Miles’ Song „Music“ („To live without my music, would be impossible to do“) und bereute es, seiner wahren Liebe untreu gewesen zu sein.
Ja, es war eine teure Liebe. Billiger war Kopieren. Also behalf man sich mit dem Aufzeichnen von Songs aus dem Radio und hoffte dabei inständig, der blöde Rundfunkmoderator würde nicht wieder ins Lied reinquatschen und so die Aufnahme ruinieren. Auf diese Weise wurden reihenweise 90-minütige Ferro Extra- und Chrome-Kassetten gefüllt. Doch waren diese nur ein Notbehelf.
"Die große Liebe schaffte es auf den Plattenteller, der vorüber-gehende Schwarm nur auf die Leerkassette"
Die oft amateurhafte Qualität der Aufnahmen – manche Kassetten rauschten stärker als ein Gebirgsbach – steigerte das Verlangen nach dem perfekten Original. Wenigstens die Lieder seiner Lieblingsband wollte man auf Schallplatte haben. Und damit begann die Qual der Wahl: „The Beatles or The Stones?“, das war nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch des Geldes. Wo die finanziellen Mittel für musikalische Polygamie fehlten, musste das Herz entscheiden. Wen liebte man mehr? Deep Purple oder Led Zeppelin? David Bowie oder T. Rex? Abba oder Smokie? Das teure Gut Musik verlangte klare Entscheidungen. Und am Ende stand fest: Die große Liebe schaffte es auf den Plattenteller, der vorüber-gehende Schwarm nur auf die Leerkassette.
Oft war die große Liebe auch – wie im wirklichen Leben – unerreichbar. Das konnten seltene Independent-EPs sein, Schwarzpressungen von Konzertmitschnitten oder Alben, die nur in Kleinstauflage oder in Brasilien veröffentlicht worden waren. Wer Glück hatte, kannte einen Musikdealer, der gegen entsprechendes Geld solchen Stoff zu besorgen vermochte. Und manchmal geschah ein Wunder, und man entdeckte auf dem Flohmarkt eine verschollen geglaubte Aufnahme. Solche Glücksmomente entschädigten dafür, dass der Plattenteller allzu oft leer blieb.
Am Ende ist man übersättigt, aber nicht befriedigt
Heute ist aus dem Teller ein Büfett geworden, das von Musik-Caterern wie Spotify und Soundcould unablässig aufgefüllt wird. An die Stelle ausgewählter Songs, die einzeln bezahlt werden müssen, ist „all you can hear“ getreten. Und natürlich geht es zu wie an jedem Büfett: Man langt zu, ohne groß zu überlegen, stopft riesige Mengen von allem Möglichen in sich rein und ist am Ende übersättigt.
Opfer muss der Hörer heute keine mehr bringen. 9,99 Euro für eine unbegrenzte Anzahl von Liedern im Monat – das wäre einem Musikfan im Jahr 1972 paradiesisch vorgekommen. Es ist aber die Hölle. Denn der Streaming-Dienst verhält sich zum individuellen Plattenregal wie YouPorn zur privaten Liebesbriefsammlung: Alles ist im Überfluss vorhanden, doch nichts ist mehr greifbar. Digitale Lieder sind wie Nummern einer schier endlosen Liste, die stetig länger wird – heute schon Track 19.642.837 gehört?
Wobei das Hören oft nur ein Überspringen ist. Bei vielen unbekannten Songs klickt der Konsument nach 20, 25 Sekunden weiter. Für Musiklabels und ihre Interpreten erwächst daraus ein wirtschaftliches Problem: Spotify zahlt erst dann für einen Stream-Abruf, wenn einem Lied mindestens 31 Sekunden gelauscht wurde. Um den Hörer vom vorzeitigen Drücken der Skip-Taste abzuhalten, lassen es Musikproduzenten daher bereits in den ersten Sekunden krachen. Effekt jagt Effekt. Für einen langsamen Spannungsaufbau fehlt die Zeit. Whams „Club Tropicana“ und Billy Joels „Good Night Saigon“ würden heute floppen, da das ellenlange Intro aus zirpenden Grillen besteht.
Wenn Musikhören zum Speed-Dating wird
Selbst Klassiker wie „Stairway To Heaven“ oder „Bohemian Rhapsody“ hätten im Streaming-Zeitalter keine Chance, weil Led Zeppelin und Queen nicht schnell genug zur Sache kommen. So wird Musikhören zum Speed-Dating. In solchen Spotify-gepimpten Songs kann sich nichts mehr entwickeln, schon gar nicht eine Story.
Die analogen Aufzeichnungen hingegen erzählten Geschichten. Und zwar nicht nur jene des Songwriters, sondern auch die des Zuhörers. Hinter jeder Platte, jeder Single stecken ganz persönliche Erinnerungen. Manches Lied ist gar ein Liebesbrief, den man einst der Auserwählten per Kassette zukommen ließ, und wenn man Glück hatte, traf man mit den gewählten Tönen den richtigen Ton. So prägte und veränderte Musik das Leben.
Natürlich hütete man solche Schätze. Viele besitzen noch Jahrzehnte später ihre Kassetten aus der Jugend. Weggeworfen wurde nichts. Allenfalls gab man Kleinode (wie Originalalben aus dem Erscheinungsjahr) an die nächste Generation weiter. Das ist im Digitalzeitalter nicht mehr möglich. Eine iTunes-Sammlung lässt sich nicht vererben; sie gehört Apple. Mit dem Tod eines Menschen verschwindet auch dessen Musik.
Der Niedergang einer großen Liebe
Aber eigentlich hat sie schon vorher aufgehört zu existieren. 1992 wurde MP3 als offizieller Datenstandard festgeschrieben. Im gleichen Jahr verkündete der Papst, die Erde sei keine Scheibe mehr. Platten und CDs verschwanden nach und nach in den Kellern. Und an ihre Stelle traten digitale Klänge. Akustische Kulissen, die den Alltag angenehmer machen. (Gibt es eigentlich noch Menschen, die ohne MP3-Spieler joggen?) So hören wir immer mehr Musik und fühlen immer weniger dabei.
Eine große Liebe ist gestorben. Wir können sie ins Leben zurückholen, indem wir unsere Platten wieder rundlaufen lassen – oder sie begraben: Die passende Playlist zum Requiem findet sich garantiert bei Spotify.