Die ewige 10

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Im Jahr 2010 kam Diego Maradona als Nationaltrainer Argentiniens nach Deutschland. Für das Vorbereitungsspiel auf die Weltmeisterschaft in Südafrika war der damals 49-Jährige mit seinem Team nach München gereist. Es ist das letzte Mal, dass sich Maradona in Funktion als Spieler oder Trainer in Deutschland aufhält. Playboy-Autor Tobias Moorstedt ordnete die damalige Situation um den Trainer Diego Maradona mit Hinblick auf die bevorstehende WM für uns ein und versuchte dabei, dem Phänomen um Argentiniens überlebensgroßem Idol näherzukommen. Der Text erschien erstmals in Playboy-Ausgabe 07/2010.

TEXT: TOBIAS MOORSTEDT / VORWORT: DAVID GOLLER

Es ist der 3. März 2010, die deutsche Fußballnationalmannschaft trifft in München auf die Elf von Argentinien. Kein Freundschaftsspiel, sondern der erste Test für die WM-Saison. 20 Minuten vor dem Anstoß kommt mein Freund Sebastian zum Private Viewing und bringt seinen Sohn mit. Simon ist sechs Jahre alt, trägt ein Deutschland-Trikot in XXXS und spielt seit vier Monaten in der F-Jugend eines Vorortclubs. 2010 ist Simons erste WM, gebannt schaut er auf den Bildschirm, bald fällt ihm auf, dass die Kamera nicht auf Bastian  Schweinsteiger, Lionel Messi oder Carlos Tevez ruht, die Männer, die im südafrikanischen Sommer zu Nationalhelden werden sollen und deren Panini- Klebebildnisse er bald mit Freunden auf dem Schulhof tauschen wird. Stattdessen ist die ganze Zeit ein „alter Mann“ im Bild, wie der Sechsjährige gnadenlos feststellt – 49 Jahre, 90 Kilo, schwarze Locken, fettes Gesicht. Simon fragt: „Wer ist das?“

Diego Maradona als Nationaltrainer Argentiniens in der Allianz Arena im Jahr 2010.
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In der Allianz-Arena wird die Nationalhymne gespielt. Diego Armando Maradona, der argentinische Nationaltrainer, blickt in den Nachthimmel. Er hat die Melodie schon oft gehört und auch den Text – „Wir werden mit Ruhm bedeckt leben / oder wir schwören, ehrenhaft zu sterben“. 91 Länderspiele. 34 Tore. Veteran von vier WMs, die so endeten: rote Karte, Pokal, Finalniederlage, Dopingsperre. Die Hymne ist der Soundtrack seines Lebens, Triumph und Katastrophe!

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Nun führt er die argentinische Mannschaft zur WM 2010 – eine Mannschaft, gespickt mit Superstars, Messi, Tevez, Milito, Tormaschinen, Millionäre. Der größte Star aber wird auf der Bank sitzen. Er bleibt „die 10“, auch wenn er nicht auf dem Platz steht. Wer also ist Diego Maradona? Eine schwierige Frage. Der Mann ist durch Logik, Moral, Physik nicht zu erklären, man muss ihn sehen: Zur Halbzeit steht es 0 : 0. Wir klappen den Laptop auf und suchen mit Simon auf YouTube nach Maradona: 77.000 Filme. Die WM wird in HD zu sehen sein, die Maradona-Clips aber sind verwaschen, verpixelt, wie ein Super-8-Film, gedreht vor langer Zeit. Und doch ist sein Spiel unfassbar modern, Tempodribblings, One-Touch-Football, die Pirouette auf dem Ball, von der wir immer dachten, Zinedine Zidane habe sie erfunden. Maradona macht Tore mit der Hacke, umtanzt sieben Gegenspieler, läuft mit dem Ball ins Tor. Ein Video zeigt ihn im türkisen Ballonseidenblouson des SSC Neapel bei Aufwärmübungen, während sich die Mitspieler dehnen und stretchen, jongliert er den Ball zu den Klängen der Popband Opus: „Life Is Life“ („Every minute of the future / is the memory of the past / we all gave the power / we all gave the best“), klatscht in die Hände, schüttelt die Hüften. Ist das Sex? Spielfreude? Irrsinn? Unter dem Video stehen Tausende Kommentare des YouTube-Publikums. Juan aus Argentinien schreibt: „El Rey“ („der König“). Paul aus Sheffi eld: „Er hat uns 1986 betrogen, aber wer könnte diesem Magier böse sein?“ Huldigungen aus Spanien, Bangladesch, Nigeria. Das Message Board der Videobörse ist Maradonas Poesiealbum, in das die Menschen jeden Tag eintragen, dass sie ihn nicht vergessen haben.

Internationales Testspiel in Buenos Aires Argentinien 1 - 1 Deutschland, 24.03.1982. Trikottausch; Diego Armando Maradona (links) und Hansi Mueller (Deutschland)
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Diego Maradona, erzählen wir Simon, wurde von der Fifa zum besten Spieler des 20. Jahrhunderts gewählt. Er war ein Künstler, Junkie, ein Rebell und Freak. Maradona war Vincent van Gogh, Jim Morrison, der absolute King. Aber Rimbaud starb mit 37 Jahren. Mozart mit 35. Maradona ist heute 49 und trotz Kokain- und Fettsucht, zwei Herzinfarkten und Not-OPs am Leben. Er hat die erste Regel des Rockstars nicht beachtet: Großes tun und jung sterben, damit das Wesen nicht mehr das Werk befleckt. Natürlich wünscht man niemandem den Tod.  Aber es ist für wahre Fans nicht einfach, den größten Spieler aller Zeiten als Witzfigur zu erleben, seit 2005 als Fernsehmoderator in Glitzerhosen („La Noche de Diez“) und seit 2008 als Nationaltrainer, der Dinge sagt wie: „Ich kann niemandem Dinge beibringen, die nur ich vermag.“ Bei seinem Deutschland-Besuch sieht man ihn mit dicker Havanna auf dem Trainingsplatz. Ach, Diego.

Der 30. Oktober 1960 war ein Sonntag. Der Tag, an dem die Menschen aus den armen Stadtvierteln von Buenos Aires in die Kirche und ins Fußballstadion gehen. Die Orte des Glaubens und der Ekstase, wo sie den Alltag vergessen. Die hochschwangere Dona Dalma Salvadora Franco Maradona verspürte einen heftigen Tritt. Später wird sie erzählen, dass sie schon da gewusst habe, dass ihr Sohn einmal ein großer Fußballer werden würde (ein Linksfuß übrigens). Die Menschen erzählen sich wunderliche Dinge aus dieser Nacht, berichten von einem Stern, der am Südhimmel aufgetaucht sei. Und als Dona Dalma im Kreißsaal lag und das Kind zur Welt brachte, schrie sie angeblich laut „Goooooooooool!“. Es war Schicksal, sollen diese Anekdoten beweisen, Gott hatte von Anfang an seine Hand im Spiel. In den 90er-Jahren gründete sich in Buenos Aires gar die Kirche „Eglesia del D10z“, die Kirche der Nummer 10. Die Menschen beten: „Diego unser, der du bist auf den Fußballplätzen. Geheiligt werde dein Linksschuss.“

ISPO - Internationale Sportartikelmesse in München, 1981: Diego Maradona mit seiner Freundin Claudia
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Maradona ist zehn Jahre alt, als er zum ersten Mal den heiligen Rasen eines Fußballstadions betritt. In der Halbzeit einer Erstliga-Partie unterhält er die Zuschauer mit Kunststückchen am Ball, schlägt Haken, lässt den Ball tanzen auf Füßen, Schultern und Kopf. Als die Mannschaften zurück auf das Feld kommen und der Schiedsrichter den Jungen vertreiben will, schreit die Menge: „Lass ihn bleiben. Lass ihn bleiben.“ Es ist das erste Mal, dass Maradona die Stimme der Menge hört, die donnernden, beschwörenden Rufe, die ihn die ganze Karriere begleiten werden – Dieeeeeego. Dieeeeeego, wie das Brausen des Meeres. Wenig später findet sich in der Zeitung „Clarín“ der erste Presseartikel über den „pibe d’oro“, den Jungen aus Gold: „Er sieht aus, als sei er von einer Müllkippe entkommen. Er kann den Ball töten und ihn im nächsten Moment in den Himmel heben. Fast scheint es, als stamme er nicht aus unserer Zeit.“ Bereits hier wird die Verblüffung über die Erhabenheit seines Umgangs mit dem Ball beschrieben, die sich 15 Jahre später wieder Bahn bricht, als er sein Land in Mexiko gegen England aufs Feld führt. In der eigenen Hälfte startet er ein Solo, 53 Meter lang, vorbei an fünf Engländern. Der TV-Moderator Víctor Hugo Morales schreit in sein Mikrofon: „Maradona, kosmisches Fässchen, von welchem Planeten bist du gekommen?“ 

Das ist die Frage: Wer ist Maradona? Und wo kommt er her?

An Maradona faszinierte nicht nur das unfassbare Talent, sondern auch die Aufsteiger-Story: Er schaffte es aus Villa Fiorito, einem Ghettoviertel von Buenos Aires mit ungepflasterten Straßen, ohne Schule und Polizeistation, in dem der Vater Tierkadaver verarbeitete, mit Willen und Talent hinauf in die First Class des Landes und der Welt. Rags to riches, von Lumpen zum Luxus, nennt man in Hollywood so einen Plot. Die Herkunft machte den Fußballer zu einer Symbolfigur für die Unterdrückten der Erde, zum Robin Hood des Fußballs. Ist es Zufall, dass Maradona nur für Underdog- Vereine gespielt hat? Er siegte mit den Boca Juniors, dem Verein der dunkelhäutigen Masse gegen die hellhäutige Euro-Elite von River Plate, er spielte für den FC Barcelona im Camp Nou, dem Tempel des katalonischen Volkes, die Antithese zur Zentralregierung in Madrid, er führte den SSC Neapel zu zwei Meisterschaften und einem Uefa-Cup-Sieg und entriss dem reichen Norditalien die Vorherrschaft über den Fußball, im Trikot von Argentinien kämpfte er gegen die reiche Nordhalbkugel. Eine Rolle, die er gern spielte: „Ich bin die Stimme derjenigen, die keine Stimme haben. Ich habe ein Mikrofon vor mir, sie werden in ihrem ganzen verdammten Leben keine solche Gelegenheit haben.“ 

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Für die Argentinier steht Diego in einer Reihe mit Nationalhelden wie dem Tangosänger Carlos Cardel, Evita und Che Guevara. Maradona lässt auf seinen Schultern das Antlitz von Fidel Castro und El Che eintätowieren. Auf Kuba lässt er später seine Dekadenzdefekte behandeln, lobt einmal eine Rede von Castro als „besser als die Bibel“. Maradona ist kein Sozialist, er nimmt, was er kriegen kann. 1990 lässt er sich vom rechtsgerichteten Präsidenten Carlos Menem zum argentinischen Sonderbotschafter ernennen – samt Diplomatenpass. Ein Jahr später wird er trotzdem wegen Kokainbesitzes verhaftet. Maradona ist gleichzeitig FC Bayern und St. Pauli, der teuerste Spieler seiner Zeit mit Underground-Marketing. Der argentinische Soziologe Pablo Alabarces erklärt ihn in seinem Buch „Für Messi sterben?“ (Suhrkamp Verlag) gar zum Führer des Maradonismus, der letzten Ideologie Südamerikas, die die Gesellschaft nach dem Zerfall von Kirche, Staat und Gewerkschaften noch zusammenhält: Die Symbolfigur Maradona sorge für Einheit nach innen und „richtet sich nach außen gegen die Institutionen, gegen die Fifa und die mächtigen Länder, die diese Gremien vermeintlich beherrschen“. Für Maradona ist diese Position sehr bequem. Er kann sich als Opfer inszenieren, das von einer Verschwörung aus Fifa, den USA und dem Kapitalismus im Allgemeinen zerstört wird, er kann auf die Unterstützung der Massen zählen: Als er 1994 gesperrt wird, versammeln sich in Bangladesch (!) 20.000 Menschen und schreien: „Maradona spielt, oder Dhaka brennt!“. Und die Fans der Boca Juniors singen: „In Argentinien / gibt es eine Bande / die Maradona ins Gefängnis steckt / und Carlos Menem kokst auch.“ 

Maradona, meint Alabarces, ist Argentinien, und Argentinien ist Maradona: Enormes Potenzial (Rohstoffe, Talent) wird durch schlechtes Management (Korruption, Drogensucht) zu Grunde gerichtet. Wie sehr das Land seit seinem Abschiedsspiel (2000, mit 40 Kilo Übergewicht) unter der Leerstelle leidet, die er in der Aufstellung der Albiceleste hinterlassen hat, wird auch dadurch deutlich, dass man manisch nach einem neuen Maradona sucht und doch niemals glücklich wird – Ariel Ortega, Juan Pablo Riquelme, Pablo Aymar, Javier Saviola, Lionel Messi. Doch niemand ist wie er. Ohne Maradona, so scheint es, hat Argentinien das Siegen verlernt, seit 1990 kam das Team bei Weltmeisterschaften nicht mehr über das Viertelfinale hinaus. Von der WM 2006 blieben uns weniger das überragende Passspiel von Esteban Cambiasso oder die Tore von Maxi Rodriguez in Erinnerung, sondern die Bilder, die „die Zehn“ auf der Tribüne zeigen, wie er hüpft und schreit und leidet. 

Man muss das alles wissen, wenn man verstehen will, warum der argentinische Verband Ende 2008 einen Mann zum Nationaltrainer berief, der die vergangenen zehn Jahre in Sanatorien und der einen oder anderen Gefängniszelle verbracht hat. Seit seinem Amtsantritt hat er 102 Spieler ausprobiert, 1 : 6 gegen Bolivien verloren, er ließ die Mannschaft mal 4-4-2 spielen, 4-2-3-1 und 4-3-3. Er raucht Zigarre auf dem Platz und beschimpft die Medien als „Schwanzlutscher“. Ach, Diego. 

Die Partie gegen Deutschland in München gewinnt Argentinien 1 : 0. Simon ist enttäuscht, aber die Pressekonferenz ist wie immer eine Show: Maradona prophezeit den WM-Sieg, die Journalisten stellen keine Fragen, sondern sagen: „Wir müssen Gott danken, dass Sie Argentinier sind.“ 

Diego Maradona und Joachim Löw nach dem Länderspiel zwischen Argentinien und Deutschland.
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Diego, hat Diego einmal nach einem Nahtoderlebnis gesagt, „wird erst in den Himmel aufsteigen, wenn die vier Beatles ihn dort begrüßen“. Paul und Ringo gehen auf die 70 zu. Noch hat Maradona also ein paar Jahre Zeit, und vielleicht wird er Argentinien ja zum WM-Sieg führen und dann auch noch Sepp Blatter als Fifa-Präsident ablösen.

Das ist die einzige Lektion, die wir Simon an diesem Fußballabend über den größten Spieler aller Zeiten geben können: Wenn es um Maradona geht, ist der Ball immer heiß und der tödliche Pass immer möglich. Wenn es um Maradona geht, ist das letzte Wort nie gesprochen … niemals.