Frau Dillinger, was versteht man unter Asexualität?
Dass kein oder nur wenig Verlangen nach gelebter Sexualität mit einem anderen Menschen besteht.
Sie ist aber nicht mit sexueller Unlust gleichzusetzen, richtig?
Genau. Nur weil man beispielsweise fünf Jahre lang keinen Sex hatte – aus welchen Gründen auch immer –, ist man nicht asexuell. Sie hat rein gar nichts mit der Dauer der Abstinenz zu tun. Ob man asexuell ist, muss man selbst definieren.
Sexologin Anna Dillinger: „Asexualität hat rein gar nichts mit der Dauer der Abstinenz zu tun“
Wie kann man denn herausfinden, ob man asexuell ist? Und worin liegt der Unterschied zu sexueller Unlust genau?
Hilfreich kann es sein, sich folgende Fragen zu stellen: Wann hatte ich zuletzt erregende, lustvolle Gefühle? Kenne ich solche überhaupt? Und was bedeuten sie für mich? Vielleicht erinnere ich mich dann daran, dass ich sie – bevor ich beispielsweise die Antibabypille genommen habe – durchaus hatte. Wenn ich mich daran erinnere und es sich gut anfühlt, spricht das nicht unbedingt für Asexualität.
Was spricht dagegen konkret für sie?
Für Asexualität spricht, wenn sie eine Erklärung für meine Gefühle und mein Verhalten ist und man merkt: Anzuerkennen, kein Verlangen zu haben, entlastet mich, hier passe ich gut rein. Denn so wie auch Bi-, Homo- oder Heterosexualität kann Asexualität als sexuelle Orientierung betrachtet werden.
Das heißt, man kommt mit ihr auf die Welt?
Wie es auch bei anderen sexuellen Orientierungen der Fall ist, kann das durchaus fluide sein. Es gibt Menschen, die 20 Jahre verheiratet waren, zwei Kinder haben und sich irgendwann trotzdem als homosexuell outen. Aber für die meisten Menschen ist die Asexualität etwas, das einen längeren Lebensabschnitt beschreibt. Wichtig ist allerdings zu erwähnen, dass es verschiedene Ausprägungen gibt – sie hat ein breites Spektrum.
Sexologin Anna Dillinger: „Asexualität hat ein breites Spektrum“
Wie meinen Sie das? Können Sie Beispiele nennen?
Es gibt Menschen, die kein Verlangen nach sexueller Interaktion haben, sich aber befriedigen. Zum Beispiel weil sie dieses befreite Gefühl mögen, das man danach hat. Man kann aber auch asexuell sein und dabei romantisch. Das heißt, dass man sich trotzdem verliebt fühlen kann und vielleicht auch die eine oder andere Berührung genießt. Es gibt aber auch Menschen, die beides sind, asexuell und aromantisch. Sie fühlen eher eine platonische Anziehung oder hegen ausschließlich freundschaftliche Gefühle.
Kann eine Beziehung zwischen einer asexuellen und einer nicht asexuellen Person Ihrer Meinung nach funktionieren?
Das kommt ein bisschen auf die Sexualität der anderen Person an. Wenn es jemand ist, der oft Lust auf Sex hat und gleichzeitig monogam lieben will, dann wird es schwierig. Es gibt aber auch genug Menschen, für die Sexualität nicht so einen hohen Stellenwert hat oder die sich für Beziehungskonzepte entscheiden, in denen man seine Sexualität an anderer Stelle auslebt.
Was empfehlen Sie für ein Vorgehen, wenn ein asexueller Mensch und ein nicht asexueller Mensch Interesse füreinander entwickeln?
Man sollte seine Asexualität auf jeden Fall von Anfang an mitteilen und das Thema früh verhandeln. Dann sollte sich zeigen, ob und wie man das vereinbaren kann.
Sexologin Anna Dillinger: „Man kann nichts vermissen, was man nie besonders geil gefunden hat“
Haben Sie als Sexualberaterin beruflich viel mit asexuellen Menschen zu tun?
Tatsächlich nicht. Bei mir in der Praxis geht es eher häufig um Lustlosigkeit – und das ist ja was ganz anderes. Für viele Asexuelle gilt: Man kann nichts vermissen, was man nie besonders geil gefunden hat.
Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass asexuelle Menschen aufgrund ihrer Orientierung einen hohen Leidensdruck haben? Schließlich leben wir in einer Welt, in der sich ziemlich viel um Sex dreht.
Der Leidensdruck besteht nicht in der Tatsache, dass sie keinen Sex haben wollen, sondern darin, dass ihre sexuelle Orientierung auf Unverständnis stoßen kann. Dass es Kommentare gibt wie: Du hast halt noch nie geilen Sex gehabt. Oder dass ihre Asexualität mit Lustlosigkeit gleichgesetzt wird. Ich denke, so ein Verhalten ist generell typisch für unseren Umgang mit Sexualität: Jeder soll irgendwie Sex haben, aber bloß nicht zu viel und bloß nicht zu wenig. Wir gehen da leider häufig mit irgendwelchen Maßstäben ran.
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