Afghanistan: Die angekündigte Katastrophe

DIe Machtergreifung in Afghanistan durch die Taliban löst weltweite Demonstrationen aus – wie hier in Berlin
Credit: IMAGO / Future Image

Die Bilder erschüttern, die Reaktionen der Bundesregierung auf die Machtergreifung der Taliban ebenso. Was die Eskalation für die 38 Millionen Afghanen bedeutet – und wer jetzt besonders bedroht ist. 

Es sind Bilder, die erschüttern. Verzweifelte Menschen erklimmen ein riesiges Transportflugzeug, das auf die Startbahn rollt – und klammern sich an alles, was sie zu greifen bekommen: Tragflächen, Triebwerke, Radkästen, andere Menschen. Auf Videoaufnahmen kann man erkennen, wie kurz nach dem Abheben der Frachtmaschine Körper aus großer Höhe in die Tiefe stürzen. Aus Angst vor dem vermeintlichen Tod durch die Rache der Taliban wählten die Verzweifelten den sicheren Tod auf der Flucht. Die Bilder vom Flughafen in Kabul gingen um die Welt.

Erschütternd auch die ersten Reaktionen der Bundesregierung auf die Machtergreifung der Taliban. Außenminister Heiko Maas wird am vergangenen Montag mit folgenden Worten zitiert: „Wir haben die Lage falsch eingeschätzt.“ Zyniker entgegnen darauf: Welche Lage? Die Flüchtlingsbewegung 2015? Corona? Wirecard? Flutkatastrophe? Afghanistan?

Deutschlands Außenminister musste nun Fehler einräumen. „Es gibt da nichts zu beschönigen“

Nach dem endgültigen Abzug der alliierten Kräfte hatten die Taliban innerhalb weniger Wochen weite Teile Afghanistans zurückerobert. Am Wochenende brachten die militanten Islamisten schließlich auch die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle. Der amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani sowie weitere Teile der Regierung waren zuvor ins Ausland geflohen. Deutschlands Außenminister musste nun Fehler einräumen. „Es gibt da nichts zu beschönigen“, sagte Maas. Weder die Bundesregierung noch ihre westlichen Partner einschließlich der Nachrichtendienste hätten die aktuelle Entwicklung so vorhergesehen. „Es gebietet die Ehrlichkeit, das in aller Form so einzugestehen.“

Dabei hatten bereits im April Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Kabul das Außenministerium in Berlin vor einer drohenden Eskalation gewarnt. Einem Bericht zufolge hatten Botschaftsmitarbeiter über längere Zeit erfolglos beim Auswärtigen Amt auf die Gefährdung ihrer Mitarbeiter hingewiesen. So zitiert die ARD aus einem aktuellen Lagebericht des stellvertretenden deutschen Botschafters Hendrik van Thiel, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei. „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schiefgehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen“, schrieb der Diplomat demnach in seinem Bericht.

In den vergangenen knapp 20 Jahren waren etwa 150.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr am Hindukusch im Einsatz, viele von ihnen mehrfach. 59 deutsche Soldaten kamen in Afghanistan ums Leben, 35 von ihnen wurden im Gefecht oder durch Anschläge getötet. Das sind die nackten Zahlen. Hinter jedem Getöteten stehen menschliche Tragödien und die Frage: War das alles umsonst?

Bedroht sind zweiffellos die Frauen im Land

Was bedeutet die Machtübernahme durch die radikal-islamistischen Taliban für die 38 Millionen Afghanen?

Besonders bedroht sind – neben den Zehntausenden, die in den letzten Jahren entweder für die gewählte Regierung gearbeitet oder mit den West-Alliierten kooperiert hatten – zweifellos die Frauen im Land. Zwar zeigen sich die Taliban in ersten Pressemeldungen versöhnlich und lassen verlautbaren, dass niemand Angst haben müsse, auch die Frauen nicht. Die militanten Taliban, so sagte deren Sprecher Sabiullah Mudschahid jetzt, setzten sich für die Rechte der Frauen ein – im Rahmen der Scharia. Aber eben genau das lässt nichts Gutes befürchten.

So gelten Zwangsheirat minderjähriger Frauen oder die Überordnung des Mannes über die Frau als zentrale Säulen der Scharia. Beispiele für die rechtliche Bevorzugung des Mannes finden sich auch in zahlreichen Koranversen: Nach Sure 2,282 kann die Zeugenaussage eines Mannes nur von zwei Frauen aufgewogen werden, denn „eine Frau allein kann sich irren“ (2,282). Viele muslimische Theologen bescheinigen Frauen „von ihrer natürlichen Anlage her“ emotional eine größere Labilität, Irrationalität und beschränkte Einsicht in intellektuelle Angelegenheiten. „Frauen stehen unter der Herrschaft ihrer Gefühle, wohingegen Männer ihrem Verstand folgen“. Eine Unterdrückung der Frau sei dies nicht, so die muslimische Apologetik. Der Islam fordere lediglich nicht mehr von der Frau, als sie aufgrund ihrer biologischen Gegebenheiten zu leisten imstande sei. „Die geistige Überlegenheit des Mannes über die Frau (…) ist einfach von der Natur so vorgegeben.“

Müssen Frauen in Afghanistan künftig also nicht nur um ihre Freiheit, ihre erkämpften Rechte, sondern auch um ihr Leben fürchten? Der langjährige und preisgekrönte Auslandskorrespondent des „Spiegel“, Hasnain Kazim, zieht in einem aktuellen Beitrag für „Zeit Online“ ein ernüchterndes Fazit: „Es gibt keine ‚guten Taliban‘, wie es manchmal heißt. Es gibt keine Taliban, mit denen man reden, verhandeln kann. Es gibt nur mörderische, mittelalterlich bis steinzeitlich denkende, primitive Taliban. Man kann sie nur bekämpfen.“