Text: Hendrik Buchheister - Dieser Text erschien in leicht unterschiedlicher Fassung erstmals in Playboy-Ausgabe 03/2019
Auch in der wohl besten Liga der Welt fallen manchmal Tore, wie man sie eher auf einem Bolzplatz erwarten würde. Zum Beispiel beim Stadtderby des FC Liverpool gegen den FC Everton an der Anfield Road Anfang Dezember. Es läuft die sechste Minute der Nachspielzeit, Spielstand 0:0, als Liverpools aufgerückter Innenverteidiger Virgil van Dijk eine Direktabnahme von der Strafraumkante versucht und sein verunglückter Schuss in hohem Bogen in Richtung Tor fliegt.
Evertons Torwart verschätzt sich, der Ball springt auf die Latte, einmal, zweimal, dann köpft Liverpools Angreifer Divock Origi ihn am stolpernden Keeper vorbei ins Tor – und löst bei seinem Trainer einen unerlaubten Gefühlsausbruch aus.
9000 Euro Strafe und ein Sieg
Klopp sprintet wie von Sinnen los, quer übers Spielfeld, und springt seinem Torwart Alisson in die Arme. Zwei Tage später wird ihn der englische Verband zu einer Strafe von fast 9000 Euro verurteilen, doch in diesem Moment denkt er nicht an mögliche Folgen seines Platzsturms. Der 1:0-Sieg durch den komödiantischen Treffer bestärkt Liverpool in dem Glauben, dass diese Saison eine ganz besondere werden könnte.
Die genannte Szene sehen Sie hier im Video:
In der Liga stehen die Chancen nicht schlecht, dass das Team die fast 30 Jahre lange Wartezeit auf die Meisterschaft beendet. Es wäre Klopps erster Titel bei dem Verein – in seiner vierten Saison. In der Champions League sollen das Viertelfinal-Rücksüiel heute gegen den FC Porto (Hinspiel: 2:0 für Liverpool) nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur zweiten Endspielteilnahme in Folge sein.
In Liverpool sind Trainer nicht einfach Trainer. Sie sind Anführer einer Glaubensgemeinschaft, die stolz ist auf die große Geschichte des Clubs mit 18 Meisterschaften und fünf Siegen im Europapokal der Landesmeister und der Champions League, auf die Anfield Road und auf „You’ll Never Walk Alone“. Große Trainer werden zu Ikonen stilisiert. Der größte von ihnen, Bill Shankly, steht als Bronzestatue vor der berühmten Kop-Tribüne.
Von Klopp gibt es seit Ende des vergangenen Jahres immerhin eine Wandmalerei in Liverpools Künstlerviertel. Zu einer Statue reicht es für ihn noch nicht, doch er arbeitet daran. Und wie bei seinen vorherigen Stationen Mainz 05 und Borussia Dortmund ist auch in Liverpool sein emotionales, manchmal unkontrolliertes Wesen elementar für den Erfolg.
"Wir müssen von Zweiflern zu Glaubenden werden!"
Als Klopp im Oktober 2015 der englischen Öffentlichkeit präsentiert wurde, im dunklen Hemd und dunklen Sakko, als wollte er einen Staatsmann imitieren, herrschten Desillusion und Lethargie in Liverpool. Anderthalb Jahre zuvor hatte der Verein die Meisterschaft tragisch verpasst, weil der legendäre Spielführer Steven Gerrard im entscheidenden Moment ausgerutscht war.
Bei Klopps Ankunft stand Liverpool auf dem zehnten Tabellenplatz. Hängen blieb von seiner ersten Pressekonferenz vor allem die Aussage, er sei der „Normal One“, im Gegensatz zu José Mourinho, dem selbst ernannten „Special One“. Wichtiger war aber, was er als seine größte Aufgabe empfand: „Wir müssen von Zweiflern zu Glaubenden werden.“
Seine Mission war es, einem tief verunsicherten Club das Selbstvertrauen zurückzugeben. Er setzte dazu von Beginn an auf Gesten und Gefühle. Er appellierte nicht nur an den Kopf der Fans, sondern auch an deren Bauch und Herz. Nach einem seiner ersten Heimspiele rief er seine Mannschaft auf dem Rasen zusammen und machte mit ihr vor der Kop-Tribüne die Welle.
Die Spieler wirkten irritiert, auch das Publikum wusste nicht so recht, was das sollte. Die Medien spotteten danach über den choreografierten Jubel. Denn erstens sind solche Rituale der Verbrüderung zwischen Profis und Zuschauern in England nicht üblich, auch nicht nach großen Siegen.
Und zweitens hatte Liverpool das Spiel gegen West Bromwich Albion gar nicht gewonnen, sondern mit einem 2:2 abgeschlossen. „Es war nur ein Dankeschön, mehr nicht. Es geht um die Beziehung zwischen der Mannschaft und den Fans“, erklärte Klopp die Geste. Sie war ein erster Schritt, um den FC Liverpool wieder unter Strom zu setzen. Weitere folgten in Form einiger rauschender Siege an der Anfield Road.
Das 4:3 gegen Dortmund im Viertelfinale der Europa League durch drei Tore in den letzten 25 Minuten in Klopps erster Saison. Das 4:3 gegen Manchester City und der Marsch ins Finale der Champions League in der vergangenen Spielzeit. In der laufenden Saison der 1:0-Sieg gegen den SSC Neapel, der hauchdünn das Weiterkommen in der Champions League sicherte, das 1:0 gegen Everton mit Klopps Platzsturm oder kurz vor dem Jahreswechsel das 5:1 gegen den FC Arsenal: Spiele, die Zweifler zu Glaubenden werden ließen.
Jürgen Klopp spricht die Sprache der Stadt
Klopp passt nach Liverpool, auch als Typ. Oder, so muss man es eher sagen: ganz besonders als Typ. Er ist der emotionale Trainer, den der Club mit seinem emotionalen Umfeld braucht. Er kommt von ziemlich weit unten, wurde vom Interims-Trainer in Mainz, damals einem Abstiegskandidaten in der zweiten Liga, zur Symbolfigur bei einem der größten Vereine Europas. Solche Biographien mögen die Leute in der Arbeiterstadt Liverpool. Außerdem ist er einer der wenigen Menschen im Profi-Fußball, die sich politisch äußern. Er hat mehrfach kritisch zum Brexit Position bezogen.
Damit spricht er die Sprache der Stadt, die mit 58 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt hat. Klopp versucht, den Kontakt zur Basis zu halten. Er taucht überraschend bei Fan-Veranstaltungen auf oder im Pub in seinem Wohnort Formby an der Küste. Wenn man das Handy-Video sieht, das in der Nacht nach der 1:3-Niederlage im Finale der Champions League gegen Real Madrid im vergangenen Jahr entstanden ist, auf dem Klopp mit Campino von den Toten Hosen und Johannes B. Kerner davon singt, dass der Europapokal schon irgendwann nach Liverpool zurückkommen werde, dann könnte man sich den Trainer wunderbar auch in einer der vielen Kneipen im Schatten der Anfield Road vorstellen, wo sich die Fans vor den Spielen beim Bier in Stimmung bringen.
Traumatische Niederlagen und emotionale Zuschauer
Auch dank seines speziellen Fußballs funktioniert Klopp in Liverpool. Es ist ein Fußball, wie ihn der Anhang des Clubs sehen will. Offensiv, voller Leidenschaft, ohne Netz und doppelten Boden. Wenn die rote Flut mit Spielern wie Sadio Mané, dem Ex-Hoffenheimer Roberto Firmino, Torjäger Mohamed Salah oder dem früheren Münchner Xherdan Shaqiri in Richtung des gegnerischen Strafraums schwappt und die Zuschauer von ihren Sitzen aufspringen, dann ist der Verein ganz bei sich. Klopp fühlt sich diesem packenden Stil verpflichtet. Für ihn ist Fußball Unterhaltung. „Wenn wir die Leute nicht unterhalten, warum sollten wir dann spielen?“, sagte er im vergangenen Herbst.
Der Trainer hat das Talent, die Leistungsgrenzen seiner Spieler nach oben zu verschieben. Sein Rezept dafür ist Vertrauen. Er machte den Schotten Andrew Robertson, der 2017 von Absteiger Hull City kam, zu einem der besten Außenverteidiger Europas und Firmino zum vielseitigsten Stürmer der Premier League. Doch Klopp hat auch erkennen müssen, wann er mit seinen Methoden nicht mehr weiterkommt.
Noch in der vergangenen Saison wurde er viel kritisiert, weil seine Mannschaft mit ihrem Überfall-Fußball zwar wunderbar über ihre Gegner hinwegfegen konnte, in der Defensive aber so strapazierfähig war wie ein nasses Taschentuch. Sie kassierte viele Tore, tat sich dadurch auch gegen schwächere Gegner schwer und erlitt gegen starke Teams traumatische Niederlagen. Beim 1:4 bei Tottenham Hotspur wechselte Klopp den orientierungslosen Abwehrchef Dejan Lovren schon nach einer halben Stunde aus. Bei der Final-Niederlage in der Champions League gegen Real Madrid patzte Torwart Loris Karius doppelt. Klopp zog daraus seine Schlüsse und entschied, gegen seine Ideale zu verstoßen.
"Es ist besser, seine Meinung zu ändern, als keine zu haben"
Als Manchester United im Sommer 2016 die damalige Rekordsumme von mehr als 100 Millionen Euro für Paul Pogba ausgab, hatte der Trainer sinngemäß noch geklagt, dass er nichts zu tun haben wolle mit einem Fußball, in dem solche Summen bewegt werden. Mittlerweile tätigt sein Club ähnliche Transfers. Im Januar des vergangenen Jahres verpflichtete Liverpool Innenverteidiger van Dijk für mehr als 80 Millionen Euro. Im Sommer folgte der brasilianische Nationaltorwart Alisson für 70 Millionen Euro. „Es ist besser, seine Meinung zu ändern, als überhaupt keine zu haben“, rechtfertigte Klopp seinen Sinneswandel beim großen Geldausgeben. Dank der teuren Zugänge kassiert Liverpool in dieser Saison so wenige Gegentore wie noch nie.
Jurgener Believers
Zudem ist das Spiel der Mannschaft flexibler geworden. Sie kann nun auch nüchtern und kontrolliert auftreten, fast unspektakulär. Sie muss den Gegner nicht immer überrennen und spielt nicht nur Fußball für Bauch und Herz, sondern auch für den Kopf. Das Ergebnis ist eine neue Konstanz. Liverpool gewinnt mittlerweile auch Spiele, die früher mit einem Remis oder einer Niederlage geendet hätten.
Liverpools starke Saison zeigt, dass sich Klopp weiterentwickelt hat. Wenn Spieltag ist an der Anfield Road, sieht man ihn überall. Auf T-Shirts, die vor dem Stadion verkauft werden, als Papp-Aufsteller an einem Stand, der „Klopp Dogs“ anbietet, auf den Plakaten auf den Rängen. Seit einer Weile ist auf der Kop-Tribüne ein Banner zu sehen, das in weißer Farbe auf rotem Grund zwei Worte enthält: „Jurgener Believers.“ Selten hatte ein so wirrer Sprachmix eine so klare Aussage. Der Trainer hat sein Antrittsversprechen in Liverpool eingelöst. Er hat aus Zweiflern Glaubende gemacht.