Ein Sex-Skandal darf uns nicht unsere eigene Sexualität ruinieren

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Die Welt redet über Harvey Weinstein. Zu recht. Nur müssen wir aufpassen, dass die Suche nach einer Erklärung nicht den falschen Schuldigen findet: unsere Sexualität.

Es scheint, als habe sich in den letzten zwei Wochen jeder, von Hollywoods Elite über Journalisten bis hin zu Social-Media-Nutzern, eine Meinung zu Harvey Weinstein zugelegt. Nach neuester Schätzung ist der gefallene Mogul und Mitgründer von Miramax und der Weinstein Company beschuldigt, fast 40 Frauen sexuell belästigt oder missbraucht zu haben.

Manche dieser Frauen sollen nicht älter als 17 Jahre gewesen sein. Bereits in den frühen 90ern soll es zu ersten Übergriffen gekommen sein.

Von allen verachtet

Seitdem das vor zwei Wochen an die Öffentlichkeit kam, überschlagen sich die Filmindustrie und Freunde Weinsteins damit, sich von ihm zu distanzieren. Er ist als Vorsitzender der Weinstein Company gefeuert worden, hat seine Mitgliedschaft bei der Academy of Motion Pictures Arts and Science verloren, ist von der BAFTA suspendiert und von der Producers Guild of America ausgeschlossen worden.

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Weinstein selbst ist aus dem Vorstand seiner Firma zurückgetreten und sucht offenbar wegen seiner „Sexsucht“ Hilfe in einer Einrichtung in Arizona. „Mir geht es nicht gut, aber ich gebe mir Mühe“, sagt er. „Ich brauche Hilfe, Leute. [...] Wir machen alle Fehler.“

Da die Zahl seiner Opfer beständig steigt und wir versuchen, eine Erklärung für Weinsteins Verhalten zu finden, ist es jetzt wichtig zu erkennen, dass man Sexualität – und vor allem die männliche Sexualität – nicht für diesen Skandal verantwortlich machen kann.

Lassen Sie mich Ihnen als jemand, der sowohl wissenschaftlich als auch klinisch mit inhaftierten Sexualstraftätern gearbeitet hat, eines sagen: Die meisten Männer vergewaltigen oder belästigen keine Frauen. Männer mit Sexualtrieb sind nicht der Grund für aggressives sexuelles Verhalten. Männer, die sich bewusst dafür entscheiden unethisch und übergriffig zu handeln dagegen schon.

"Sexsucht" gibt es nicht

Es gibt einen steigenden Trend Männer, die sexuelles Interesse an Frauen zeigen, von Anfang an als krank zu verurteilen. Aber das kann keine Lösung sein.

Es gibt einen Unterschied zwischen gesunder Sexualität und einer, die sich gegen andere richtet. Beide als ein und dasselbe zu sehen, ist weder hilfreich noch produktiv. Übergriffige Männer werden sich durch gesellschaftliche Verachtung nicht aufhalten lassen.

Das Problem ist also nicht Sex an sich. Auch nicht die Liebe für Sex. Und eine sogenannte „Sexsucht“ ist keine anerkannte medizinische Diagnose. Deswegen findet man sie auch nicht in der Liste psychischer Krankheiten. Die aktuelle Forschung legt eher nahe, dass extreme sexuelle Verhaltensmuster ein Resultat von Religion, emotionalen Störungen wie Angst oder Depression, oder auch ganz schlicht Langweile sind.

Wir ruinieren den guten Namen gesunder Sexualität

Sex, oder auch den Spaß am Sex für übergriffiges Verhalten verantwortlich zu machen, ruiniert den guten Namen gesunder Sexualität. Außerdem suggeriert es, dass alle Männer mit einer starken Libido potentielle Sexualstraftäter sind. Das kann schon deswegen nicht wahr sein, weil bewiesen ist, dass es auch Frauen gibt, die sich sexuell übergriffig verhalten.

Die passendere Diagnose für wiederholte Sexualstraftäter ist wohl eher die einer antisozialen oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Für beide Störungen ist Empathielosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlbefinden anderer Menschen typisch. Geht es um Sexualität sehen antisoziale und narzisstische Persönlichkeiten deswegen ihre Mitmenschen als Schachfiguren an, die sie für ihre Zwecke – in diesem Fall ihre Befriedigung – benutzen.

Zu viele sind still geblieben

Sexuell belästigt zu werden, sei es im Privaten oder am Arbeitsplatz, schadet der Psyche von Frauen, ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Fähigkeit, ihren Job zu tun. Die wichtigste Frage, die wir aus dem Weinstein-Skandal mitnehmen können, ist die, wie wir ab jetzt weitermachen. Wir müssen eine gesunde Einstellung zu unserer Sexualität behalten, auch wenn wir wissen, dass manche Menschen sie immer wieder als Waffe benutzen werden.

Wir dürfen übergriffiges sexuelles Verhalten nicht als Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Problems behandeln. Stattdessen müssen wir, wenn es dazu kommt, individuell Verantwortung übernehmen.

Wie wir gesehen haben, ist es zu einfach, sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass sich jemand anderes schon darum kümmern wird. Wenn Sie sich einmischen, fällt es dem nächsten schon leichter.

Am Ende bleibt es Egoismus

Wenn Sie Zeuge sexueller Belästigung werden, verschließen sie nicht die Augen! Wenden Sie sich an die Person, die belästigt wird. Fragen Sie, was Sie tun können, um zu helfen. Zu viele sind bisher still geblieben, weil sie Angst hatten ihren Job zu verlieren oder auf der falschen schwarzen Liste zu landen. Aber egal, wie viele Rechtfertigungen man sich einfallen lässt, am Ende bleibt das Egoismus.

Frauen, die Opfer sexueller Belästigung geworden sind, sind häufig gezwungen, in ihrem Job weiterhin mit dem Täter zusammen zu arbeiten. Das ist nicht nur extrem belastend und demoralisierend, sondern erhöht auch die Gefahr zukünftiger Übergriffe. Wer zu seinem eigenen Vorteil wegschaut, muss wissen, dass er selbst übergriffiges Verhalten erleichtert. Und zwar nicht nur in dem einen Fall, dessen Zeuge er ist, sondern in vielen mehr, die darauf folgen könnten.

Nie die ersten, nie die letzten

Und an alle moralisch Entrüsteten: Es macht keinen Sinn nach sozialer Gerechtigkeit zu rufen, wenn das keinen echten Wandel mit sich bringt. Wir haben in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, wenn es darum geht Opfer nicht mehr für schuldig zu erklären.

Genau so wichtig ist es jetzt, nicht die Sexualität an sich verantwortlich zu machen. Als Frau habe ich es bereits mit meinem Anteil von Weinsteins in der Welt zu tun gehabt. Das haben die meisten von uns – und wir waren nie die ersten und genau so wenig werden wir nie die letzten sein.

Aber wir müssen aus diesen Begegnungen etwas Positives machen. Etwas, das uns belastbarer macht und unseren Charakter stärkt. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Verdorbene uns diktiert, wie wir zu leben haben.

Dr. Debra W. Soh schreibt über den wissenschaftlichen und politischen Umgang mit Sexualität. Ihre Artikel sind in Harper’s, im Wall Street Journal, in der Los Angeles Times und vielen anderen Zeitungen und Zeitschriften erschienen.

Dieser Artikel erschien zuerst im amerikanischen Playboy und wurde von Paul Hertzberg aus dem Englischen übersetzt.