Warum wir wieder lernen müssen, alleine zu sein

Credit: Playboy Deutschland

Die Welt dreht sich immer schneller. Umso wichtiger, dass wir uns wieder Zeit für uns selbst nehmen - ganz ohne Handy, Laptop oder Tablet. Der Rückzug in die Einsamkeit: In vielen Kulturen ist das ein wichtiger Prozess, um Kraft zu tanken, um innerlich zu regenerieren. Schon vor über einhundert Jahren machten sich Menschen darüber Gedanken. Ein Kommentar - über den Genuss einer neu entdeckten Lebensfreude.

Henry David Thoreau war einsam – zumindest für 24 Monate. Der amerikanische Schriftsteller und Philosoph beschrieb in seinem Buch Walden oder Leben in den Wäldern die Abnabelung von der Zivilisation und somit auch von der Allverfügbarkeit.

Dafür zog er für zwei Jahre in eine primitive Blockhütte am See Walden Pond bei Massachusetts, um seinen Selbstversuch zu dokumentieren. Alleine, versteht sich.

Heutzutage gilt Einsamkeit als etwas Dissoziales. Allein sein – das wird gesellschaftlich mit den Begriffen Single, Nerd oder Autist in Verbindung gebracht. Wer dennoch gerne einsam sein möchte, verkündet seinen Lebenswandel oft gleich mit der Vuvuzela.

Selbstverliebte Insta-Pics statt radikaler Rückzug

Kein stürmischer Aufbruch ohne Veröffentlichung des bevorstehenden Wagnisses: Noch vor dem Binden der Wanderstiefel werden heute die Accounts der Social-Media-Kanäle befüllt. Schnell ein Selfie in Meditations-Pose geschossen oder ein “On the Road”-Insta-Pic, mit Early-Bird-Filter verschönert. Zum Lachen, wäre diese Absurdität nicht so verdammt traurig.

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Im Drama "Into the Wild" inszenierte Sean Penn seinen Aussteiger-Protagonisten radikal: Ausweis zerschneiden und sich damit von der Zivilisation lösen. Zelte und alte Verbindungen abbrechen. Im Kontext des sozialen Lebens, das sich mittlerweile von analog zu digital gewandelt hat, ist das heute ein nahezu unmögliches Unterfangen.

"Nur einen Tag nicht online zu sein, gleicht inzwischen einer modernen Eremitage"

Denn der moderne Kerberos - der dreiköpfige Hund, der das Tor zur herbeigesehnten Einsamkeit versperrt - hört auf den Namen Nomophobie: "No more phone phobia" bezeichnet die panische Angst, kein vibrierendes Telefon mehr in der Tasche zu spüren.

Es ist das Risiko, etwas zu verpassen, wenn man nicht alle zwei Minuten die Timeline "checkt". Das Risiko, wie ein toter Fisch durch die Maschen der Kommunikationsnetze zu rutschen.

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Es hat etwas von tragischer Fatalität mit katastrophalem Ausgang. Nur einen Tag nicht online zu sein, gleicht inzwischen einer modernen Eremitage, in der es keine Unterhaltung, kein Feedback und keine Beweihräucherung mehr gibt. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es durchaus unterhaltsam sein kann, irgendwo still da zu sitzen und nichts zu tun. Einfach nichts.

Alleinsein ist eine wichtige Lebenstechnik

Schwer zu glauben, doch: Allein in seinen vier Wänden zu sitzen und seine Gedanken zu Ende zu bringen, ohne diese halbgar von anderen beglaubigen zu lassen, kann erquickender sein als jedes Katzenvideo. Es mag fürchterlich therapeutisch, gar esoterisch klingen: Das Alleinsein muss wieder erlernt werden - trotz oder gerade wegen seiner gegenwärtigen Unpopularität.

Wir haben diese wichtige Lebenstechnik vergessen. Kein Wunder, dass sie manchen inzwischen geradezu als innovativ erscheint. Dabei ist sie uralt: Sie wurde einfach von der - schuldig vorgetragenen - mantrahaften "Später vielleicht mal”-Floskel verdrängt.

"Nature Porn" als letzter Kontakt zur Umwelt

Verwegenheit und Abenteuerlust - wir haben sie durch apathisches Display-Starren ersetzt. Bezeichnend ist die Phrase "Warte, ich zeig dir das schnell". Selbst die eigene Artikulation hat offenbar keinen Bock mehr darauf, das zehntausendste 4-K-Abenteuer-Video zu beschreiben.

Spätestens seit es Seiten wie “Nature Porn” gibt, ist es scheinbar überflüssig, sich überhaupt noch der wirklichen Rohheit der heimischen Fauna und Flora auszusetzen. Es wird immerzu geplant und viel zu selten ausgeführt. Immerzu kommentiert, aber nie wirklich Stellung bezogen. Lieber gucken, als anfassen.

Mit den Dogmen brechen

Wer erwacht aus dieser Hatz des Pläneschmiedens, sich loslöst vom Druck selbstauferlegter Dogmen, der blickt möglicherweise irgendwann zurück: Auf das Ergebnis tagträumerischer Randnotizen, die genauso wenig greifbar sind, wie das virtuelle Leben selbst. Jenes Leben, das man all die Jahre geführt hat, ohne es selbst zu merken.

“Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen! Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.”

Die Parabel der Solitude von Henry David Thoreaus: Nach über einhundert Jahren scheint sie aktueller zu sein als je zuvor.