Playboy: Herr Verhoeven, zuerst einmal herzlichen Glückwunsch! Sie sind nicht nur Golden-Globe-Gewinner, sondern dieses Jahr auch der Jury-Präsident auf der Berlinale.
Verhoeven: Vielen Dank, ich freue mich schon sehr darauf. Da kann ich innerhalb von zehn Tagen so viele Filme aus aller Welt sehen wie sonst das ganze Jahr nicht. Das ist für mich als Filmemacher sehr interessant. Weil ich mir so einen Überblick darüber verschaffen kann, wo sich das internationale Kino gerade künstlerisch und kommerziell befindet.
Playboy: Sie sind auch nach über 40 Jahren als Filmemacher immer noch neugierig?
Verhoeven: Und wie! Ich will doch wissen, wie meine Kollegen ticken. Was sie zu erzählen haben. Welche Bildsprache sie benutzen. Und ob ich mir ein paar neue Ideen abgucken kann (lacht). Natürlich war ich auch bei den Filmfestspielen in Cannes und Toronto. Aber da habe ich ausschließlich meinen Film „Elle“ promotet. Für alles andere hatte ich keine Zeit.
Playboy: Mit Ihrem neuen Erotik-Thriller haben Sie einen Film gemacht, der provoziert...
Verhoeven: Das hatten Sie von einem 78-Jährigen wohl nicht erwartet, was? Aber eins kann ich Ihnen versichern: Ich bin immer noch sehr weit entfernt von jeglicher Bewusstseinstrübung oder gar Altersmilde.
Playboy: Viele große Regisseure verlieren im Alter ihre künstlerische Potenz. Wie haben Sie sich Ihren Biss erhalten?
Verhoeven: Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich immer noch ein sehr leidenschaftlicher Mensch bin. Beruflich und auch privat. Und Sie werden lachen: Ich ziehe immer noch jede Menge Energie aus meiner Arbeit. Und das ist gut so, denn Dreharbeiten für einen abendfüllenden Spielfilm sind immer sehr anstrengend. Am meisten beflügelt mich aber sicher die Angst.
Trailer: "Elle"
Playboy: Die Angst?
Verhoeven: Ja, die Angst zu scheitern. Die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Die Angst vor dem nächsten Drehtag. Für mich ist Filmemachen eine Existenzfrage von geradezu Heidegger’scher Dimension, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Playboy: Ich habe keinen blassen Schimmer.
Verhoeven: Es ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ins Unbekannte, das erst Gestalt annimmt, wenn man es erschafft. Für mich bedeutet Filmemachen, der menschlichen Existenz auf die Spur zu kommen. Es ist ein Crash-Kurs in Existenzialismus. Außerdem bin ich beim Drehen von wunderbaren Schauspielern und Crew-Mitgliedern umgeben. Auch das gibt mir Kraft. Bei „Elle“ kam noch hinzu, dass wir den Film – dem Himmel sei Dank! – doch nicht, wie ursprünglich geplant, in den USA gemacht haben, sondern in Frankreich.
Playboy: Eine Frau wird von einem maskierten Mann brutal vergewaltigt und findet das auch noch sexuell äußerst stimulierend. Und sie will es immer und immer wieder haben. So einen Film wollten Sie im prüden Amerika machen? Ernsthaft?
Verhoeven: Verrückt, nicht? Dabei ist der Schauplatz der Romanvorlage „Oh …“ von Philippe Djian eigentlich Paris. Aber irgendwie haben wir uns eingebildet, dass man diese Handlung auch nach Boston oder Chicago verlegen könnte. Und wir hatten auch vor, den Film durch die Bank mit amerikanischen Schauspielern zu besetzen. Das hat sich dann alles als sehr, sehr schwierig herausgestellt.
Playboy: Weil Nicole Kidman, Ihre Wunschkandidatin für die Hauptrolle, niemals ihre nackten Brüste vor laufender Kamera gezeigt hätte?
Verhoeven: (Lacht) Das haben jetzt Sie gesagt. Ich würde so etwas nie sagen.
Playboy: Die meisten Hollywood-Stars haben doch eine „No Nudity“-Klausel im Vertrag, oder nicht?
Verhoeven: Doch, doch. Das trifft leider zu. Und es ist in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Aber was Nicole Kidman betrifft, die hatten wir nur intern als eine mögliche Kandidatin für die Besetzung im Gespräch. Wir haben sie aber nie kontaktiert. Wie gesagt, das war alles sehr schwierig. Also haben wir uns dann langsam, aber sicher wieder nach Frankreich hin orientiert. Ich kann Ihnen versichern, dass ich überglücklich war, als Isabelle Huppert die Hauptrolle übernahm. Sie spielt Michèle – also die „Elle“ – absolut perfekt. Und das war wirklich alles andere als leicht. Denn Michèle ist eine sehr vielschichtige und komplexe Frau. Sie ist unkonventionell, stark erotisiert, absolut tabulos. Und gleichzeitig auch eine sehr kühle, distanzierte Beobachterin, extrem berechnend und rätselhaft.
Playboy: Isabelle Huppert hat mir verraten, dass Sie persönlich daran schuld seien, dass sie überhaupt professionelle Schauspielerin wurde.
Verhoeven: Das hat sie mir auch erzählt. Sie hat wohl als junges Mädchen meinen Film „Türkische Früchte“ gesehen und war wohl sehr angetan von der Mischung aus sexueller Freizügigkeit und tiefer menschlicher Tragik. Isabelle ist eine sehr mutige Frau. Und als Schauspielerin total angstfrei. Sie riskiert, ohne zu zögern, Kopf und Kragen. Und gleichzeitig ist sie unheimlich diszipliniert. Sie ist für jeden Regisseur ein wahres Geschenk.
Playboy: „Türkische Früchte“ handelt von den Ausschweifungen einer Prostituierten und wurde in den Siebzigern als pornografisch diffamiert. Ging es in Ihrem Kopf damals nur um Sex?
Verhoeven: Für mich war Sex immer eine sehr starke Triebfeder in meinem Leben. Künstlerisch und auch privat. Außerdem hatte ich – ganz im Gegensatz zu vielen meiner Zeitgenossen – nie Angst vor Sex. Nicht vor den sexuellen Darstellungen im Film und schon gar nicht vor dem sexuellen Akt mit einer schönen Frau in meinem Bett (lacht). Das ist doch das Natürlichste der Welt! Die Natur hat es nun mal so eingerichtet, dass der Mann eine Frau sucht, die er penetrieren will. Ich hatte in meinem Leben mit Frauen viele Beziehungen, die erotisch aufgeladen waren oder gleich sexuell ausgelebt wurden. Das hat mich immer sehr inspiriert.
Playboy: Auch für Ihre Arbeit?
Verhoeven: Aber natürlich! Die Lust am Sex hat sich immer auch in meinen Filmen widergespiegelt. Im Kino kann man mit Erotik ja Dinge ausdrücken, die man mit Worten so niemals sagen könnte. Ich meine damit auch Blicke, Gesten oder ein bestimmtes Lächeln. Wie jemand sein Haar aus der Stirn streicht oder in den Nacken wirft. Von intimen Berührungen ganz zu schweigen.
Playboy: Ist es nicht bemerkenswert, dass Sie Ihren erotischsten Film dann ausgerechnet doch in Hollywood gemacht haben?
Verhoeven: Sie meinen wohl „Basic Instinct“? Oder „Showgirls“? Ich habe in Hollywood ja zwei sexuell sehr aufgeladene Filme gemacht. Dazu muss man sagen, dass es damals, Mitte der 90er-Jahre, selbst in Hollywood vergleichsweise freizügig zuging.
Playboy: Die berühmt-berüchtigte „Basic Instinct“-Szene, in der Sharon Stone die Beine übereinanderschlägt, ist die meistangehaltene Videosequenz der Filmgeschichte, stimmt’s?
Verhoeven: Stimmt. Auch ich habe die DVD daheim. Aber es sind ja nur wenige Sekunden. Ganze vier Frames. Man muss schon ganz genau hinschauen und am besten noch eine Lupe zur Hand nehmen, wenn man da wirklich etwas sehen will. Lassen Sie mich aber jetzt ein für alle Mal Klarheit schaffen: Ja, man sieht die Vagina von Sharon Stone.
Playboy: Sharon Stone sagte in einem Interview, dass sie bei dieser Szene von Ihnen richtig ausgetrickst wurde.
Verhoeven: Ich bitte Sie! Die gute Sharon saß im Minirock und ohne Höschen auf einem Stuhl. Die Kamera stand einen knappen Meter vor ihr – und war genau auf ihre Schamlippen ausgerichtet. Was also sieht man da wohl? Ganz abgesehen davon: Während der Dreharbeiten ging ich mit Sharon einmal zum Essen aus, und da erzählte ich ihr von einer Frau aus meiner Studentenzeit in Holland. Die kam zu jeder Party im Kleid und ohne Höschen. Sie setzte sich dann ganz demonstrativ genau dorthin, wo wir sie alle sehr gut sehen konnten, und spreizte ihre Beine. Darauf angesprochen, sagte sie bloß: „Ich weiß, dass ihr Jungs da einen tiefen Einblick bekommt, deshalb mache ich es ja. Mich macht das richtig scharf.“ Als ich Sharon die Geschichte erzählte, war sie sofort bereit, das in den Film einzubauen. Diese Szene stand so vorher gar nicht im Drehbuch.
Playboy: Für „Basic Instinct“ wie auch für „Showgirls“ wurden Sie von diversen Frauengruppen und Feministinnen hart angegangen und als geiler Bock beschimpft, der Frauen sexuell ausbeuten würde.
Verhoeven: Das hat mich nie wirklich gekratzt. Weil es ja absolut nicht stimmt. Glauben Sie im Ernst, dass eine so wunderbare Frau und dermaßen hochklassige Schauspielerin wie Isabelle Huppert jemals mit einem Frauenfeind und Ausbeuter zusammenarbeiten würde? Und hätte ein Hollywood-Star wie Charlize Theron dann unbedingt vorsprechen wollen, um die Hauptrolle in „Showgirls“ zu bekommen? Oder wäre Madonna für eine andere Rolle im selben Film zum Vorsprechen gekommen? Leider muss ich aber sagen, dass der tatsächlichen Hauptdarstellerin von „Showgirls“, Elizabeth Berkley, die Mitwirkung beruflich sehr geschadet hat. Sie galt danach in Hollywood lange als Kassengift.
Playboy: Sie hingegen haben sich eine Zeit lang Filmen gewidmet, die wegen hoher Produktionskosten auf ihren Kassenerfolg angewiesen waren, wie „Robocop“.
Verhoeven: Ja, da haben sie mich einfach mal machen lassen. Als der Film dann ein Erfolg wurde, waren sie alle begeistert. Ich wurde als innovativer Regisseur gefeiert und in einem Atemzug mit „Terminator“- Regisseur David Cameron genannt. Bei „Die totale Erinnerung – Total Recall“ begann das Studio dann mitzureden. Ich sollte dies und jenes ändern. Und so ging das dann immer weiter. Trotzdem habe ich meine künstlerische Autonomie noch lange gewahrt.
Playboy: Bis zu dem Sci-Fi-Thriller „Hollow Man – Unsichtbare Gefahr“!
Verhoeven: Richtig! Diesen Film habe ich mir tatsächlich aus der Hand nehmen lassen. Ich habe mich wider besseres Wissen auf Kompromisse eingelassen, die ich schnell zutiefst bedauert habe. Es ist ein Film, den ich überhaupt nicht mag und am liebsten vergessen würde. Es ist schon seltsam: Hollywood holt sich seit Jahrzehnten hochtalentierte Filmemacher aus aller Welt, weil man sie für ihre Originalität schätzt. Und dann hat man nichts Besseres zu tun, als ihnen genau diese Einzigartigkeit nach und nach auszutreiben. Für mich war da ein kreatives Arbeiten nicht mehr möglich.
Playboy: Apropos Kreativität: In Ihre Filme bauen Sie neben freizügigen Sex-Szenen auch immer wieder explizite Gewaltdarstellungen ein.
Verhoeven: Weil Gewalt eben auch zum Leben dazugehört. Gott sei Dank nicht in meinem persönlichen Leben. Obwohl...ich habe als Kind im Zweiten Weltkrieg schreckliche Gräueltaten gesehen. Doch die Gewalt, Kriege, die brutale Ausübung von Macht – das sind doch Urkräfte, die schon immer unsere Welt geformt haben. Warum also soll ich Gewalt in meinen Filmen ausklammern? Und die Darstellung von Gewalt ist immer brutal. Alles andere wäre verlogen. Abgesehen davon: Als Filmemacher versuche ich immer, Klischees zu vermeiden. Oder die allzu konventionellen Bilder, die wir alle schon tausendmal gesehen haben. Ich bewege mich gern außerhalb der Norm.
Playboy: Schockieren Sie gern?
Verhoeven: Nein. Ich habe noch nie eine Szene nur deshalb gebracht, um zu schockieren. Das wäre ja kindisch. Alles, was Sie in meinen Filmen sehen, kommt aus meinem Bewusstsein oder Unterbewusstsein heraus. Deshalb nehme ich mir auch die Freiheit, es auf meine ganz eigene Art und Weise auszudrücken. Wer sich davon provoziert fühlt – meinetwegen. Aber ich werde einen Teufel tun und mich selbst zensieren!
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